Warum verfasste Religion trotz allem eine gute Idee ist
Auf den ersten Blick stechen vor allem die weiter hohen Austrittszahlen der katholischen und evangelischen Kirche ins Auge. Doch obwohl die Kirchen leerer werden, wer die Menschen nach ihrem Glauben fragt, erhält weiterhin hohe Zustimmungswerte: Laut dem "Religionsmonitor" der Bertelsmann-Stiftung waren 2018 18 Prozent der Menschen in Deutschland hochreligiös, 52 Prozent religiös und 28 Prozent nicht religiös oder Atheisten. Das scheint nicht zu den schwindenden Kirchenmitgliedern zu passen – es gibt aber Aufschluss über Veränderungen im Glauben der Menschen.
Ein kleiner Exkurs: Viele Denker der Aufklärung wollen den politischen und gesellschaftlichen Einfluss der Kirchen zurückdrängen. Sie finden "für die Absurdität der christlichen Theologie, die machtgierige Korruption der Kirchen (insbesondere der römisch-katholischen) und die überaus gefährliche Macht, die sie noch immer durch blinden Glauben über Menschen ausübte, nur bittere und höhnische Vorwürfe", schreibt etwa der britische Historiker Roy Porter in seiner "Kleinen Geschichte der Aufklärung". Es stört sie, dass die Kirchen "noch immer Gedankenkontrolle und politische Macht ausübten". Wogegen die meisten von ihnen angehen, ist das Glaubensmonopol der Institution Kirche, viele von ihnen sind persönlich jedoch gläubig.
Ziel ist ein natürlicher, persönlicher, individueller Glaube. Der Theologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher (1768-1834) beschreibt Religion als "Sinn und Geschmack fürs Unendliche", "die religiösen Gefühle sollen wie eine heilige Musik alles Tun des Menschen begleiten; er soll alles mit Religion tun, nichts aus Religion". Religion ist damit eine Angelegenheit des Individuums; sie ist wahr, wenn sie "ein Prinzip sich zu individualisieren in sich" trägt. Andere Tendenzen bewahrheiten sich dagegen nicht: Die Behauptung etwa des Marxismus, mit dem Ende der Kirchenmacht würde auch die Religion verschwinden, ist bis heute nicht eingetreten.
Der individuelle, moderne Glaube
Beide Phänomene – die Überlebenskraft des Glaubens wie auch dessen Individualisierung – lassen sich kurz gefasst auf ein Erleben des Alltags zurückführen, das völlig anders ist als es manche Intellektuelle noch im 19. Jahrhundert für die nahe Zukunft erwarten: Spielt dort oft ein großer Zukunftsoptimismus mit, der den durch technische Neuerungen befeuerten gesellschaftlichen Fortschritt feiert, hat sich die Stimmung mittlerweile deutlich abgekühlt. Dass eine durchindustrialisierte und globalisierte Welt nicht immer und besonders nicht für alle ausschließlich ein Segen ist, ist mittlerweile eine Binsenweisheit: Prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Stress und Überlastung sind nur ein paar Stichworte. Zudem hat die moderne Welt Probleme der eigenen Vergänglichkeit und Sinnsuche mit stetiger Innovation und höherem Wohlstand nicht lösen können; die Menschen erfahren Welt und Natur angesichts von Katastrophen weiterhin als eine Macht, der sie im Ernstfall ausgeliefert sind.
Es ist wiederum das Individuum, dass auf der Suche ist, nach sich selbst und dem, was über die Materialität und Arbeitswelt hinausgeht. Die Suche nach Spiritualität und Religion ist also da – nur hat sich das Umfeld verändert: Neben den Kirchen sind auf dem "Markt der Religionen" nun auch etwa Ethik, Politik, Sport und die Kunst mit Angeboten aufgetaucht, die sich der Sinnsuche auf ihre Art widmen – sie treten damit neben und in Konkurrenz zu den Offenbarungsreligionen. Identität und Sinn kann auch das ehrenamtliche Engagement, der Sport oder eine Meditation bieten.
Startbonus und Fallstricke
Einerseits haben die Kirchen einen gewissen Startbonus: Beeindruckende Bauten, alte Symbole, immer noch als sehr wichtig wahrgenommene Werte bringen sie nach vorn, Skepsis und Ablehnung aufgrund ihrer Organisationsform sind hemmende Elemente.
So bewegen sich Individuen auf diesem "Markt der Religionen" mit wählerischer Hand. Der Soziologe Thomas Luckmann schreibt schon in den 1960ern: "Ist die Religion erst einmal zur 'Privatsache' geworden, kann das Individuum nach freiem Belieben aus dem Angebot 'letzter' Bedeutungen wählen." Auch gläubige Kirchenmitglieder sehen also kein Problem darin, gleichzeitig an Yoga- oder Achtsamkeitskursen teilzunehmen und danach mit tausenden anderen einen Gottesdienst auf dem Katholikentag zu besuchen.
Gleichzeitig treten die Menschen bei aller Verbundenheit auch in Distanz zu verfasster Religion: Kaum jemand lässt sich von einer Kirche noch Dogmen vorschreiben, zentrale Glaubensinhalte abzulehnen ist für die Mehrheit der Kirchenmitglieder normal, die Konfession zu wechseln kein Tabu – das Individuum steht im Zentrum. Wie nah oder fern man der Institution Kirche steht, ist auch situationsabhängig: Manche gehen eigentlich nie in einen Gottesdienst, wenn es ihnen aber etwa bei einem Trauerfall in ihrem Umfeld schlecht geht, nehmen sie die Kirche gern in Anspruch. Andere haben persönlich mit Kirche generell nichts zu tun, fördern aber die Restaurierung ihrer Dorfkirche und freuen sich über Gottesdienste dort, auch wenn sie selbst nicht hingehen – hier haben Rituale auch eine Stellvertreterfunktion.
Der Verlust der Gemeinschaft
Momentan ist es noch so, dass die meisten gläubigen Menschen bei allem Individualismus und der durchmischten Auswahl auf dem "Markt" fest einer Kirche angehören – wenn das auch besonders im Falle der Katholiken mit großer Kritik gegenüber der Organisation verbunden ist. Individuell selbstbewusste Menschen wollen sich nichts vorschreiben lassen von einer Organisation mit Wahrheitsanspruch; Klerikalismus, Hierarchie, Machtgefälle, Missbrauch regen viele Gläubige auf, lange Zeit sind sie aber dennoch nicht aus der Kirche ausgetreten, weil sie die Organisation wegen ihrer Werte an sich gut finden.
Von großer Glaubenslosigkeit kann also bisher keine Rede sein, aber die Gewichtung ist entscheidend – ganz allein geht Glaube dann nämlich doch nicht. Der Religionssoziologe Detlef Pollack geht davon aus, das mit der schwindenden Kirchenbindung auch der Glaube an sich an Bedeutung verliert. Denn Glauben ist auch immer sozial: Gemeinsam Gottesdienst feiern, beim Pfarrfest Gemeinschaft erleben, Halt und Geborgenheit empfinden – beim von einer Gemeinschaft gelösten Glauben fehlen diese Elemente oft, es gibt weniger Austausch und Interaktion. Dadurch verliert Glaube an Relevanz und rückt in der persönlichen Priorisierung weiter nach hinten. Ein rein individueller Glaube ist deshalb nur selten nachhaltig.
Austritt aus der Mitte
Nun hat sich die Haltung vieler Menschen zur Kirche in jüngster Vergangenheit geändert: Mittlerweile treten im Zuge von Missbrauch, Vertuschung und Machtmissbrauch nicht nur mehr die Menschen aus der Kirche aus, die sich sowieso schon über längere Zeit von ihr entfernt haben, sondern zum Teil aktive Gemeindemitglieder. Das könnte nun tatsächlich Auswirkungen für den Glauben haben. Denn andere Formate und Glaubensformen können Menschen zwar auch begeistern, der innere Kern ist aber oft klein – es fehlt die Breite, die in der Regel durch die gemeinsame Kirchenmitgliedschaft gegeben ist. Je mehr die Kirchen also an Mitgliedern verlieren, desto schwieriger wird es, die soziale Komponente des Glaubens aufrecht zu erhalten. Bislang ist noch nicht in Sicht, wie diese Leerstelle gefüllt werden soll.
Bei aller Individualisierung hat die Kirchengemeinschaft also auch Vorteile: Ihre Mitglieder teilen mit der Mitgliedschaft eine Gemeinsamkeit, die sie auch über verschiedene Glaubensauffassungen verbinden kann. Dieses Band ist nicht nur für die Gemeinschaft als ganze, sondern auch für ihre Teile elementar, um Glauben zu leben. Das Verschwinden dieser Struktur bedeutet eine Herausforderung.