Historiker über Jeanne d'Arc: Ein Vorbild unglaublicher Unbeirrbarkeit
Ein junges Mädchen aus dem einfachem Volk geht zu Frankreichs Thronfolger und sagt: Gebt mir ein Heer, ich werde die Engländer vertreiben. Und sie hat zunächst Erfolg, wird dann aber gefangen genommen und als Ketzerin verbrannt. Der Neuzeit-Historiker Gerd Krumeich (76) hat eine neue Biografie über die heilige Jeanne d'Arc (1412-1431) geschrieben. Im Interview erklärt er, warum.
Frage: Herr Professor Krumeich, man kennt Sie als Experten des 19./20. Jahrhunderts. Dennoch ist der Weg zu Jeanne d'Arc aus dem frühen 15. Jahrhundert nicht so weit, wie man denken könnte. Wo ist Ihr Link zu diesem Lebensthema?
Krumeich: Um in Deutschland eine Professur zu bekommen, muss man zwei ganz unterschiedliche Themenfelder beherrschen. Mein erstes Thema war die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs. Für die Habilitation brauchte ich ein weiteres. Da kam ich auf die Idee, mir die Geschichte des Jeanne-d'Arc-Kultes zu erarbeiten. Als Student in Paris hatte ich eine Bude an der Place des Pyramides, genau über der Statue von Jeanne d'Arc, und ich bekam immer mit, was dort an Demonstrationen und Gegendemos lief. Damals interessierte mich das Thema noch gar nicht so sehr. Doch irgendwann hat es mich gepackt und nicht mehr losgelassen.
Frage: Jeanne d'Arc ist von unzähligen Mythen umrankt und wurde über die Jahrhunderte immer wieder politisch und literarisch übermalt. Kann man daraus überhaupt noch eine unbestritten historische Johanna herausschälen?
Krumeich: Schon seit 500 Jahren gibt es wissenschaftliche Darstellungen darüber. Aber man kann nicht einfach die alten Arbeiten kopieren - die Fragen um Jeanne d'Arc stellen sich für jede Zeit neu. Und sie werden immer aus der Zeit heraus beantwortet, in der man selbst lebt. Wir sehen heute die Beziehung von Kirche und Individuum anders als noch vor 100 Jahren; wir sehen das Phänomen des Nationalismus anders als noch vor 50 Jahren - jene beiden Felder, in denen sich das Thema Jeanne d'Arc bewegt: Nationalismus und Kirchenpolitik, Individuum und Kirche.
Genau deshalb sind auch die früheren Biografien von Jeanne d'Arc unweigerlich veraltet, auch wenn sie quellenmäßig auf einem guten Stand sind. Ich habe heute nicht mehr den Anspruch, neue Quellen zu entdecken. Es ist schon Arbeit genug, die vorhandenen Quellen bestmöglich und unparteiisch auszuwerten. Über keinen Menschen des Mittelalters gibt es so viele verlässliche und direkte Quellen wie zu dieser Gestalt. Wir haben den gesamten Wortlaut von zwei Prozessen, die sich über Jahre hinzogen; den Verdammungs- und den Revisionsprozess. Diese Akten sind sehr sprechend - man hört Jeanne quasi beim Lesen reden. Ebenso ihre Ankläger, Verteidiger und Richter. Und doch bleibt sie immer rätselhaft, und bei der Darstellung ihres Lebens und Leidens kommt es immer wieder zu starker Parteilichkeit.
Frage: Inwiefern?
Krumeich: Da sind auf der einen Seite die konservativen Katholiken, die überzeugt sind: Gott wirkt unmittelbar in die Geschichte ein. Dagegen sehen die Antiklerikalen und Atheisten in dem Geschehen von damals Spinnerei und Manipulation. Vor 100 Jahren war das ein Riesenkonflikt. In Frankreich konnte das zu Demos und Gegendemos auf der Straße führen, auch mit Handgreiflichkeiten.
Frage: Johanna ist eine sehr rätselhafte Figur: fromm, auf eine bestimmte Weise naiv, aber enorm mutig und entschlossen. Sie hört Stimmen von Heiligen, die sie leiten. Wie hoch ist der "religiöse Anteil" der Jeanne d'Arc - bzw. könnte es eine politisch-militärische Johanna ohne ihre religiöse Mission überhaupt geben?
Krumeich: Nein, beides ist aufs engste miteinander verzahnt. Man muss immer bemüht sein, Parteilichkeit zu vermeiden, bereit sein, auch die eigenen Überzeugungen zu relativieren. Ob es Gott gibt oder nicht und wie er aussieht, wenn es ihn gibt, das ist eine Frage des Glaubens; da kann sich Wissenschaft nicht einmischen. Also muss ich es in einer wissenschaftlich fundierten Biografie dabei belassen, hier nicht Stellung zu nehmen und keine persönlichen Positionen über Gott und den Glauben auszubreiten.
Frage: Die Geschichte klingt ja ein bisschen nach Greta Thunberg: Ein junges Mädchen marschiert in die Paläste der Mächtigen hinein und übernimmt qua moralischer Autorität das Kommando. Wie konnte das damals funktionieren?
Krumeich: Die Menschen damals haben öfters Seherinnen erlebt - nur noch nicht eine so kämpferische und auch nicht eine aus dem einfachen Volk. Eine große, hochrangige Theologenkommission wurde eingesetzt und befand nach sechs Wochen Beratungen: Gott kann auch ein junges Mädchen schicken, um Orleans zu befreien; und es wäre falsch von uns, es nicht mit ihr zu versuchen. Schließlich stehe das Vaterland kurz vor dem Zusammenbruch.
So bekam sie ein recht großes Heer mit vielleicht 3.000 bis 4.000 Mann - und sie hatte Erfolg. Die Engländer bekamen eine solche Angst vor dieser teuflischen Jungfrau - für die Engländer war sie teuflisch -, dass sie die Belagerung von Orleans fluchtartig aufgaben. Von da an wussten die Franzosen: Gott hat uns ein Zeichen geschickt und Orleans durch Jeanne befreit - also kann sie noch weitere Zeichen setzen und auch den König zur Krönung nach Reims bringen. Das hatte für die Menschen damals eine unbedingte Logik.
Frage: Und Jeannes Stimmen - sind die in dieser Logik auch normal?
Krumeich: Damals ging es bei Stimmen, Visionen oder Sendungen nicht vornehmlich darum, ob jemand spinnt oder nicht. Die Hauptfrage war: Sind diese Stimmen göttlichen Ursprungs oder vom Teufel? Und die Kirche als Institution muss ein Instrumentarium schaffen, um entscheiden zu können, ob etwas vom Teufel stammt oder von Gott. Das ist der Ursprung auch jener theologischen und juristischen Finessen, die dann im Prozess eingesetzt werden. Die Burgunder und die Engländer, die ja auch Katholiken sind, sagen: Sie kommt vom Teufel. Und die Franzosen entgegnen: Durch sie wirkt Gott für uns! Dieser theologisch-politische Dissens wurde sehr kämpferisch ausgetragen.
Frage: Und was sagt der Historiker dazu?
Krumeich: Mich interessiert nur die Frage, wie die Menschen damals mit diesen Stimmen umgegangen sind. Was hat man Jeanne glauben können? Es ist Tatsache, dass alle Menschen damals glaubten, die kleinen wie die großen, dass Gott auf der nächsten Wolke sitzt und jederzeit fähig und willens ist, in die konkrete tägliche Geschichte einzugreifen. Und wenn er das kann, warum soll er nicht eine Jungfrau schicken, die Heere führt? Er kann es! Joseph Görres hat ein schönes Bild für diese Überzeugung verwendet: Gott könne eine Eiche mit einem Schilfhalm fällen. Das muss man ernst nehmen, um das Phänomen Jeanne d'Arc in ihrer Zeit zu verstehen. Dabei ist völlig gleichgültig, ob man selbst antikirchlich oder kirchlich, katholisch oder nicht gläubig ist.
Frage: Verurteilung als Ketzerin, Hinrichtung, Neuaufrollen des Prozesses, später sogar Selig- und Heiligsprechung. Wie beurteilen Sie die Rolle der Kirche in der Causa Jeanne d'Arc?
Krumeich: Eine gute Frage. Aber natürlich ist auch zu klären: Wer ist die Kirche? Bischof Pierre Cauchon von Beauvais, der ihr den Prozess machte? Durfte er das allein machen? Oder hätte ein Prozess von diesem Kaliber vom Papst oder einem Konzil begleitet werden müssen? Cauchon war als Ankläger in Rouen mit den Engländern verbündet. Die Gegenseite, also beispielsweise der große Gelehrte Jean Gerson, der auf der Seite König Karls und der Franzosen stand, sah das ganz anders. Jahrhundertelang wurde diskutiert, ob ein korrekter Prozess stattgefunden hat. Und eine der Grundlagen der Heiligsprechung von 1920 war ja, dass immer wieder versucht wurde nachzuweisen, dass der Prozess kirchenrechtlich nicht korrekt geführt worden war, also nicht legitim war.
Frage: Ist den Franzosen heute noch wichtig, dass Johanna eine Heilige im Sinne der Kirche ist?
Krumeich: Das ist eine manchmal peinliche und auch kontroverse Heiligkeit. Vielfach wurde auch erwartet, dass Johanna wie so viele aus dem Heiligenkalender herausgestrichen würde. Aber das hieße, fast den gesamten französischen Katholizismus zu desavouieren. Daran hat Rom kein Interesse.
Frage: Ist die Rolle der Jeanne d'Arc heute, im postnationalen und postvolkskirchlichen 21. Jahrhundert, ausgespielt, auserzählt, ausgereizt?
Krumeich: Nein, ganz offensichtlich nicht. Das Phänomen Jeanne d'Arc wirft immer wieder die gleichen Fragen auf: Kann das denn sein? Was steckt dahinter? Ist das ein Fake, wie wir heute sagen würden, oder gibt es hier tatsächlich eine übernatürliche Wirklichkeit? Diese wundersame Geschichte wird man nie hundertprozentig auflösen können, und deshalb hat sie eine große Zukunft. Es gibt Jeanne d'Arc als Comic, als Manga, in allen Sprachen. Und wenn ich die Geschichte meinem achtjährigen Enkel erzähle, ist der sofort dabei und baut die Szene in Lego nach.
Frage: Sehen Sie Johanna als ein Vorbild an? Und wenn ja, in welcher Hinsicht?
Krumeich: Sie war mir immer ein Vorbild wegen ihrer unglaublichen Unbeirrbarkeit. Sie ist stolz, und manchmal kippt ihr Stolz in Überheblichkeit. Ihre Ankläger werfen ihr Hochmut vor. Dagegen waren die Soldaten, die unter ihr gedient haben, von ihrer Schlichtheit und Direktheit fasziniert. Mir ist sie ein Vorbild in der Unerschütterlichkeit, das zu verfolgen, was sie für wirklich richtig hielt.