Weiterentwicklung? Neuer Religionsunterricht in Niedersachsen geplant
Seit 1998 kooperieren die katholische und die evangelische Kirche in Niedersachsen beim Religionsunterricht – bisher allerdings auf organisatorischer Ebene, wenn es zu wenige Schüler einer Konfession in einer Klasse gibt oder entsprechende Lehrkräfte fehlen. Ab dem Schuljahr 2023/2024 soll es nun einen gemeinsamen christlichen Religionsunterricht geben. Im Interview erklärt Jörg-Dieter Wächter, Leiter der Hauptabteilung Bildung im Bistum Hildesheim, was die Kirchen sich von diesem Konzept erhoffen und ob das Modell in Zukunft ein Modell für ganz Deutschland werden könnte.
Frage: Herr Wächter, in Niedersachsen könnte ab dem Schuljahr 2023/2024 ein gemeinsamer christlicher Religionsunterricht eingeführt werden. Wird also in knapp zwei Jahren kein Schüler mehr einen katholischen Religionsunterricht in Ihrem Bundesland besuchen?
Wächter: Momentan beginnen wir den Beratungs- und Dialogprozess zunächst einmal auf allen Ebenen, um dann zu klären, wann und wie wir mit dem gemeinsamen christlichen Religionsunterricht starten können. Es ist schon relativ klar, wir werden eine Art von Übergangszeit vereinbaren müssen, damit der Übergang gut und geschmeidig verläuft.
Frage: Der Grundgedanke ist aber, dass es dann einen einheitlichen gemeinsamen christlichen Religionsunterricht an allen Schulen in Niedersachsen gibt.
Wächter: Genau. Das Ziel ist, dass wir am Ende einen gemeinsamen christlichen Religionsunterricht haben, der die jetzt vorhandenen Formen des christlichen Religionsunterrichts ablöst. Aktuell haben wir den klassischen katholischen Religionsunterricht, wie man ihn kennt, den klassischen evangelischen Religionsunterricht und den in Niedersachsen seit 1998 üblichen konfessionell-kooperativen Religionsunterricht, der schon eine Mischform darstellt. Die Kooperation haben wir hier bisher allerdings nur organisatorisch verstanden. Wir haben also die Möglichkeit eingeräumt, wenn zu wenig Schüler oder Lehrer einer Konfession da sind, dass man dann am Religionsunterricht der jeweils anderen Konfession teilnehmen darf. Diese drei Erscheinungsformen des Religionsunterrichts sollen durch den "neuen" gemeinsamen christlichen Religionsunterricht abgelöst werden.
Frage: Was soll sich Ihrem Konzept nach denn konkret ändern?
Wächter: Aus der Schülerperspektive ändert sich möglicherweise nicht viel. Ich bin eher skeptisch, ob die Schülerinnen und Schüler immer die konfessionelle Spezifik des Religionsunterrichtes wahrnehmen und als solche erkennen. Ändern wird sich aber auf jeden Fall viel in der Begleitung des Religionsunterrichts. Wir werden die Fortbildungen als evangelische und katholische Kirche komplett gemeinsam machen. Auch die Verantwortung der Inhalte soll zukünftig gemeinsam vorgenommen werden. Wir werden also einen Ansprechpartner für den Staat haben, der gleichermaßen evangelisch und katholisch besetzt ist. Außerdem sollen die Lehrbücher so harmonisiert werden, dass man ein Lehrbuch hat, das von beiden Konfessionen gemeinsam zugelassen ist.
Frage: Was erhoffen Sie sich von diesen Änderungen?
Wächter: Wir haben in Niedersachsen seit über 20 Jahren gute Erfahrungen in der ökumenischen Kooperation. Wir sehen zugleich eine religionsdemographische Entwicklung: Wir Christen werden weniger – sowohl evangelisch als auch katholisch. In so einer Situation geht es darum, wie wir auch in Zukunft eine bekenntnisorientierte religiöse Bildung an unseren Schulen sicherstellen.
Frage: Gibt es neben dem Rückgang an katholischen und evangelischen Schülerinnen und Schülern weitere Gründe?
Wächter: Die konfessionelle Differenz spielt im Erleben und im Leben der Menschen in unserem Bundesland immer weniger eine Rolle. Die Plausibilität, Kinder nach ihren Konfessionen zu sortieren, ist verloren gegangen. Deshalb ist es richtig und sinnvoll, sich auf das Verbindende der christlichen Botschaft zu beziehen: den Glauben an den drei-einen Gott, die Grundlage in der Heiligen Schrift und auf dieser Basis religiöse Bildung für die Heranwachsenden zu realisieren.
Frage: In Ihrem Positionspapier bezeichnen Sie den gemeinsam verantworteten Religionsunterricht als Weiterentwicklung. Inwiefern ist das das so?
Wächter: Die Weiterentwicklung heute besteht darin, dass wir die gemeinsame inhaltliche Basis definieren. Wir lösen also kein organisatorisches Problem mehr, sondern wir beantworten die inhaltliche Frage, was heute zu einer christlichen religiösen Bildung in der Schule gehört – in der jeweiligen Ausprägung natürlich mit katholischen und evangelischen Akzenten. Aber kein katholischer Religionslehrer kann sich mehr darum drücken, evangelische Inhalte zu unterrichten und umgekehrt. Und wir wollen sicherstellen, dass das auch auf qualitativ hohem Niveau geschieht.
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Frage: Viele Schülerinnen und Schüler, die katholisch oder evangelisch getauft, erfahren in ihren Familien vielleicht nicht so viel über ihre eigene Konfession. Verlieren sie nicht etwas durch die gemeinsame Form des Religionsunterrichts?
Wächter: Nein, das können wir nicht erkennen – weder evangelische noch katholische Verantwortliche. Die Bekenntnisorientierung ist gleich und auch die Vermittlung dessen, was bisher im Unterricht Thema war. Eine evangelische Lehrkraft wird bestimmte Inhalte mit einer etwas anderen Färbung unterrichten als eine katholische. Das mag eine Differenz sein, hat aber nichts damit zu tun, ob Schülerinnen und Schüler ihre eigene Konfession kennenlernen.
Frage: Warum beschränkt sich die Kooperation, die sie eingehen, auf die evangelischen Landeskirchen? In anderen Bundesländern gibt es verschiedene Modelle, wo bereits gemeinsamer Unterricht mit anderen Religionen oder Konfessionen umgesetzt wird.
Wächter: Den islamischen Religionsunterricht gibt es in Niedersachsen zwar schon länger, er ist aber erst seit Kurzem wirklich sichtbar und spielt quantitativ kaum eine Rolle. Wir haben keine nennenswerten Größen, mit denen man gut auf Augenhöhe kooperieren könnte. In Hamburg gibt es beispielsweise den Religionsunterricht für alle, der von mehreren Konfessionen und Religionen verantwortet wird. Dort herrscht allerdings eine völlig andere Situation als in einem Flächenland wie Niedersachsen. 2016 haben die deutschen Bischöfe formuliert, dass unterschiedliche Bundesländer und Regionen bei religiöser Bildung Lösungen finden sollten, die der Situation gerecht werden. Ein anderer, gewichtiger Grund: Wir wollen mit dem gemeinsamen christlichen Religionsunterricht unbedingt an der Bekenntnisorientierung des Religionsunterrichts festhalten und damit auch sicherstellen, dass wir den Vorgaben des Grundgesetzes genügen, die den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach garantieren. Dazu haben wir ein verfassungsrechtliches Gutachten in Auftrag gegeben, das bis Ende des Jahres vorliegen soll.
Frage: Nicht nur in Niedersachsen sinkt die Zahl der Christen, sondern in ganz Deutschland. Wird das niedersächsische Modell in Zukunft ein Modell für den Religionsunterricht in ganz Deutschland?
Wächter: Den Anspruch haben wir nicht. Wenn ich aber ein kleines bisschen zurückblicke: 1998 haben wir deutschlandweit zuerst mit der konfessionellen Kooperation angefangen. Wenn wir jetzt für einen gemeinsamen christlichen Religionsunterricht das erste Bundesland sind, schließe ich nicht aus, dass andere Bundesländer von unseren guten Erfahrungen der ökumenischen Zusammenarbeit profitieren, sich etwas abgucken und ähnliche Schritte gehen.