Benediktinerpater über Gehorsam: "Ein täglicher Stachel im Fleisch"
Ein Kardinal will zurücktreten. Der Papst nimmt den Rücktritt nicht an: "Mach weiter!" Der Kardinal fügt sich und erklärt: "Im Gehorsam akzeptiere ich seine Entscheidung, so wie ich es ihm versprochen habe." So geschehen in diesen Tagen zwischen Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising, und Papst Franziskus. Was aber bedeutet der altmodisch klingende Begriff Gehorsam? Ein Anruf bei Benediktinerpater Nikodemus Schnabel (42).
Der gebürtige Stuttgarter leitete von 2016 bis 2018 die Dormitio-Abtei in Jerusalem und war anschließend während eines Sabbaticals als Berater für "Religion und Außenpolitik" für das Auswärtige Amt in Berlin tätig. Aktuell ist er zuständig für das Theologische Studienjahr Jerusalem, ein ökumenisches Studienprogramm für deutschsprachige Theologie-Studierende, und hält sich deshalb in Sant'Anselmo auf, der internationalen Hochschule der Benediktiner in Rom. Sant'Anselmo ist die Mutterhochschule dieses Programms, das wegen der Pandemie dorthin ausweichen musste.
Frage: Pater Nikodemus, was unterscheidet ein Rücktrittsgesuch in der Kirche von einem Rücktritt in der Politik?
Pater Nikodemus: In demokratischen Gesellschaften sind wir Rücktritte gewohnt. Wenn nach den Wahlen andere Parteien an die Macht kommen, wird auch das politische Spitzenpersonal ausgewechselt. Wenn Verfehlungen in einer Legislaturperiode bekanntwerden, dann ist es fast schon normal, dass da jemand seinen Hut nimmt und sagt: "Ich genieße kein Vertrauen mehr", sei es vonseiten der Regierung oder der Partei - oder letztlich eben vonseiten des Souveräns, der Wähler, also vom Volk. Kirche ist natürlich anders gebaut - so sehr wir demokratische Strukturen schätzen, die ich ja gerade vom Kloster her bestens kenne. Aber in der Kirche ist eben nicht das Kirchenvolk der Souverän, sondern letztlich Christus.
Frage: Ergeben sich irgendwelche Vorteile aus der anderen Verfasstheit von Kirche?
Pater Nikodemus: Kirche hat eher den langen Atem, während Politik doch immer auch von Wahl zu Wahl denkt. So muss der Papst etwa nicht fürchten, dass ihn Wähler dafür abstrafen, wenn er etwa bei den Themen Klimagerechtigkeit oder Umgang mit Geflüchteten Klartext redet. Letzten Endes ist die Kirche nur Gott gegenüber verpflichtet, was natürlich auch ein sehr sensibles Wahrnehmen der Zeichen der Zeit wie auch ein sehr genaues Hinhören auf die Stimmen der Gläubigen bedeutet - der berühmte "sensus fidelium" - aber eben auch unabdingbar auf die Heilige Schrift und die kirchliche Tradition. Das hat Vorteile.
Frage: Aber auch Nachteile.
Pater Nikodemus: Klar, man kann diesen Ansatz missbrauchen, indem man andere Ansichten erstickt und sagt: "Gott will das so." Das kann zu dem führen, was wir spirituellen Missbrauch nennen.
Frage: Gehen wir noch mal einen Schritt zurück. Wenn sich zwei erwachsene Menschen im kirchlichen Raum begegnen und der eine seinen Willen zum Rücktritt bekundet, der andere ihm entgegnet: "Mach weiter" - was soll daran gut sein?
Pater Nikodemus: Die Kirche ist eine hierarchische Gemeinschaft. Einen Rücktritt kann man dem Oberen nur anbieten. Dahinter steckt der Gedanke, dass man nicht vor seiner Aufgabe fliehen soll, sondern treu ist gegenüber dem Auftrag Gottes. So toxisch es werden kann, wenn Gehorsam missbraucht wird, so viele positive Seiten kann er auch hervorbringen, wenn er gesund gelebt wird.
Frage: Trotzdem - in der Gesellschaft hat Gehorsam einen eher schlechten Ruf. Woran liegt das?
Pater Nikodemus: Gehorsam ist in Verruf gekommen, weil wir in der deutschen Geschichte einen Kadavergehorsam erlebt haben, der uns in Abgründe geführt hat. Das brachte eine Art Gegenbewegung hervor, verbunden mit der Auffassung, Gehorsam bedeute eine Abgabe von Verantwortung.
Frage: Ist Gehorsam überhaupt noch zeitgemäß?
Pater Nikodemus: Natürlich sind wir als Christen letzten Endes vor Gott verantwortlich. Wir sollen nicht in einem kindischen Stadium von Gehorsam verharren. Das macht spätestens das Sakrament der Firmung deutlich. Positiv gewendet könnte man Gehorsam als Hörbereitschaft definieren. Ich lasse zu und verspreche feierlich, dass andere in mein Leben mit hineinreden. Die heilsame Konsequenz: Keine Ego-Trips, kein "Unterm Strich zähl' ich".
Frage: Welche Erfahrungen haben Sie selbst mit Gehorsam in Ihrem bisherigen Ordensleben gemacht?
Pater Nikodemus: Gehorsam ist ein täglicher Stachel im Fleisch. Es widerspricht dem, was wir in der westlichen Kultur lernen: "Ich bin erwachsen genug; ich entscheide!" Gehorsam klappt daher nur, wenn man im Gespräch bleibt. Wenn der Obere mir nach langem Beten sagt "Mach das mal", dann darf ich darauf vertrauen: Der Obere weiß um meine Nöte und mein Ringen - aber ich kann die mir gestellte Aufgabe angehen. Natürlich bereitet das beiden Seiten mitunter schlaflose Nächte. Was da zwischen Kardinal Marx und dem Papst passiert ist, gehört eigentlich zum täglichen Brot des klösterlichen Lebens. Die Briefe der beiden erinnern mich doch sehr an Kapitel 68 der Benediktsregel "Überforderung durch einen Auftrag".
Frage: Das heißt?
Pater Nikodemus: Gehorsam braucht reife Menschen, die in einem hinhörenden Dialog miteinander stehen. Kardinal Marx und der Papst haben gezeigt: So läuft gesunder Gehorsam in der Kirche. Vielleicht hilft uns dieser Briefwechsel, noch einmal grundsätzlich über unsere Art von Kommunikation und unsere Idee von Gehorsam nachzudenken. Ich selbst verstehe den Brief von Papst Franziskus übrigens so, dass sich Kardinal Marx in seiner bisherigen Aufgabe jetzt noch konsequenter der Betroffenenperspektive aussetzen und stellen soll.
Frage: Sie selbst haben bei Ihrem Eintritt in den Orden die Gelübde von Armut, Keuschheit und Gehorsam abgelegt. Hand aufs Herz: Was davon ist am schwierigsten einzuhalten?
Pater Nikodemus: Gehorsam.
Frage: Wirklich?
Pater Nikodemus: (lacht) Ja, da muss ich gar nicht lange drüber nachdenken.