Das Heiligkeitsgesetz des Alten Testaments ziele auf Nachkommen

Exegetin: Bei Levitikus geht es nicht um Sex zwischen Männern

Veröffentlicht am 28.06.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Helsinki ‐ Im Buch Levitikus wird Sex zwischen Männern verurteilt, heißt es oft – das prägt die kirchliche Diskussion zur Homosexualität bis heute. Doch die Exegetin Joanna Töyräänvuori hat genau hingeschaut und erzählt im katholisch.de-Interview von einem erhellenden Zusammenhang.

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Geht es um die Bewertung von Homosexualität in der Kirche, werden oft zwei Zitate aus dem Buch Levitikus herangezogen: "Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau; es ist ein Gräuel." (Lev 18,22) und "Wenn jemand bei einem Manne schläft wie bei einer Frau, so haben sie beide getan, was ein Gräuel ist, und sollen des Todes sterben; ihre Blutschuld komme über sie." (Lev 20,13) Doch geht es bei diesen Versen sicher um Sex zwischen Männern? Die finnische Exegetin Joanna Töyräänvuori hat sich das hebräische Original genau angesehen und einen Blick auf den Kontext geworfen. Im Interview spricht die Forscherin an der Universität Helsinki über das Heiligkeitsgesetz und Ergänzungen bei der Übersetzung.

Frage: Frau Töyräänvuori, Sie vertreten die These, dass die Verse in Levitikus 18,22 und 20,13 in gewisser Weise missverstanden werden. Inwiefern?

Töyräänvuori: Nicht unbedingt missverstanden, sondern es scheint in Übersetzungen eher die Tendenz zu geben, diese Verse auszuformulieren. Sie werden nicht Wort für Wort übersetzt, denn das ist in der Regel aus philologischen Gründen unmöglich. Vielmehr wird versucht, den Sachverhalt in der Übersetzung etwa durch das Hinzufügen kleiner Worte zu erklären. Schauen wir mal in die Übersetzung:

"Du darfst nicht mit einem Mann schlafen, wie man mit einer Frau schläft; das wäre ein Gräuel." (Lev 18,22)

"Wie man mit einer Frau schläft", das steht so nicht im Originaltext, es wurde zum besseren Verständnis eingefügt.

Frage: Was bedeutet das?

Töyräänvuori: Das hebräische Original spricht lediglich davon, dass ein Mann nicht mit einem anderen Mann "in den Betten der Frau" schlafen soll. Im Hebräischen ist das ein Euphemismus für Sex. Es gibt noch zwei weitere Stellen im Alten Testament, wo diese Metapher benutzt wird:

"Nun bringt alle kleinen Knaben um und tötet ebenso alle Frauen, die schon mit einem Mann geschlafen haben! Aber alle Mädchen, die noch nicht mit einem Mann geschlafen haben, lasst für euch am Leben!"

(Num 31,17-18)

"So sollt ihr es machen: An allem, was männlich ist, und an allen Frauen, die schon Verkehr mit einem Mann hatten, sollt ihr den Bann vollziehen. Sie fanden aber unter den Einwohnern von Jabesch-Gilead vierhundert jungfräuliche Mädchen, die noch keinen Verkehr mit einem Mann hatten. Diese brachten sie ins Lager nach Schilo im Land Kanaan."

(Ri 21,11-12)

Im hebräischen Text wird bei den kursiv gesetzten Stellen von "in den Betten eines Mannes schlafen" gesprochen, also die gleiche Metapher benutzt. Sie steht also dafür, mit einem Mann Sex zu haben. Wenn bei Levitikus also von "den Betten der Frau" die Rede ist, heißt das also: Sex mit einer Frau haben.

Bild: ©Privat

Die Exegetin Joanna Töyräänvuori forscht an der Universität Helsinki.

Frage: Klingt verwirrend. Wie kann man das interpretieren?

Töyräänvuori: Eine weit verbreitete Art der Interpretation ist, dass ein Mann keinen Sex mit einem anderen Mann haben darf. Eine andere Variante: Ein Mann darf mit einem anderen Mann keinen Sex in dessen Ehebett haben. Bei liberalen Forschenden ist eine andere Variante populär: Verboten ist die passive Rolle beim gleichgeschlechtlichen Sex, ein Mann darf also penetrieren, aber nicht penetriert werden. Diese Lesart wird aber vom Text nicht wirklich gedeckt.

Frage: Sie haben sich nun tiefergehend mit der Grammatik und der von Ihnen angesprochenen "Betten"-Metapher auseinandergesetzt. Was ist dabei herausgekommen?

Töyräänvuori: Ich habe die wegen ihrer Rolle in der Homosexualitäts-Debatte sehr sozial aufgeladenen Levitikus-Sätze mit den beiden anderen Sätzen verglichen, die das gleiche Sprachbild nutzen, aber weniger heikel sind. Denn bei Nummeri und den Richtern geht es nicht um Sex zwischen Männern, sondern um Sex zwischen einem Mann und einer Frau. An sich ist die Übersetzung nicht schwer: Es handelt sich jeweils um eine Liste mit Regeln für das Volk Gottes, sie sollte also verständlich sein und ist folgerichtig in recht einfachem Hebräisch geschrieben. Es ist nicht die Grammatik, sondern unser sozialer Kontext, der die Übersetzung schwierig macht. Die Sätze sind gut vergleichbar, weil alle die gleiche grammatische Struktur haben.

Bei Numeri und Richter stand nie zur Debatte, dass es um Sex mit einem Mann geht. Und bei Levitikus geht es in erster Linie um Sex mit einer Frau – das ist philologisch eigentlich völlig ersichtlich. Der weitere Mann kommt zu Mann und Frau noch zusätzlich dazu.

Frage: Das heißt, in Levitikus geht es nicht um Sex zwischen Männern, sondern darum, dass zwei Männer Sex mit einer Frau haben?

Töyräänvuori: Genau. Die beiden Stellen werden oft isoliert vom Textzusammenhang zitiert, als ob das Vorschriften für alle Menschen in allen Zeiten wären. Dabei ist es entscheidend, die Stellen im Zusammenhang des bei Levitikus formulierten Heiligkeitsgesetzes und seiner Intention zu lesen: Das Volk Gottes soll reingehalten werden. Also habe ich erforscht, welchen Sinn diese Sätze im historischen Kontext hatten. Und der hat nichts mit Sex zwischen zwei Männern zu tun – weil das für die Reinheit des Volkes Gottes völlig irrelevant ist. In diesem Teil des Heiligkeitsgesetzes gibt es eine ganze Reihe von Vorschriften, wer mit wem Sex haben darf oder eben nicht: Man darf keinen Sex mit Verwandten, Nachbarn, Frauen während ihrer Periode oder Tieren haben. Aber wenn man sich das genau anguckt wird klar, dass es gar nicht um Sex geht, sondern um Nachkommen. Denn ein ganz prominentes Phänomen fehlt: Sex mit Leichen. Ich kenne keine Gesellschaft irgendwo auf der Welt in irgendeiner Zeit, die das nicht moralisch falsch findet. Bei Levitikus wird das aber nicht erwähnt, in einer doch sehr langen Liste. Denn es geht weniger um den Sex an sich als um die Nachkommen, die dabei am Ende rauskommen. Bei den Kindern soll sichergestellt werden, dass sie die Reinheit des von Gott erwählten Volkes aufrechterhalten – und nicht unrein sind. Deswegen ist zum Beispiel der Sex mit Tieren verboten: Die Menschen der Zeit hatten die Befürchtung, dass dabei Mischwesen zwischen Mensch und Tier, sogenannte Chimären, entstehen würden – die unrein wären. Man wusste halt über körperliche Zusammenhänge noch nicht so viel. Deshalb auch das Verbot des Verkehrs mit Frauen während ihrer Periode. Man hatte die Befürchtung, dass das entstehende Kind das Blut trinken würde, was es unrein machen würde.

Wichtig ist: Es geht um die Nachkommenschaft. Die Menschen damals waren sicher dagegen, mit Toten Sex zu haben – aber im Zusammenhang von Levitikus war das egal. Deswegen wäre es dort auch völlig sinnlos, Sex zwischen zwei Männern (oder zwei Frauen) zu verbieten, denn da entsteht ja auch kein Nachwuchs.

Bild: ©katholisch.de/cph

Im Buch Levitikus des alten Testaments wird das Heiligkeitsgesetz formuliert.

Frage: Was ist denn das Problem, wenn zwei Männer mit einer Frau schlafen?

Töyräänvuori: Ich habe darüber mit Bezug auf die doppelte Vaterschaft nachgedacht. Dass ein Kind zwei Väter hat, kommt in der Antike mehrmals vor, vor allem bei alten Königen und Anführern: In der Regel gibt es dann einen sterblichen und einen unsterblichen Vater. Die Vorstellung gab es also; aber nur bei Königen, nicht im normalen Volk. Hier spielt wiederum das mangelnde Wissen der Zeit eine Rolle: Wenn eine Frau mit zwei Männern schläft, so dachte man, könnte das Kind mit überzähligen Gliedmaßen oder in Form siamesischer Zwillinge zur Welt kommen. Auch die Geburt von sehr verschieden aussehenden Zwillingen wurde als Indiz verstanden, dass eine Frau ihrem Mann fremdgegangen ist.

Frage: Es geht also darum, dass die Abstammung eines Kindes klar ist?

Töyräänvuori: Zur Reinheit des Volkes Israel gehörte das ganz zentral dazu. Deshalb das Verbot des Geschlechtsverkehrs mit den Nachbarn: Damit sind nicht-israelitische Gemeinschaften gemeint, die in der Nähe der Israeliten leben. Zum Beispiel die Moabiter, dieses Volk lebte in der gleichen Region – wurde von den Israeliten aber als unrein angesehen. Zur Aufrechterhaltung des erwählten Volkes sollten sich die Gemeinschaften nicht vermischen. Ein Kind von einer israelitischen Frau und etwa einem moabitischen Mann hätte das System des Zusammenlebens gesprengt und wäre in der Sprache der Zeit unrein gewesen. Dessen soziale Rolle wäre völlig unklar gewesen.

Das zeigt sich übrigens auch bei Levitikus: Denn was hier als eine Anweisung für einen Mann übersetzt wird, nicht mit einer Frau und einem anderen Mann zu schlafen, enthält im Original für beide Männer zwei unterschiedliche Worte: Das eine bezeichnet (als Zielgruppe für die Regeln) einen Mann als Teil des Volkes Israel, das andere einen Mann an sich, egal woher – damit können auch Ausländer oder Sklaven gemeint sein. In der Wortwahl ist diese Unterscheidung für die Reinheit also schon grundgelegt. Eine Frau soll nicht mit einem Israeliten und einem Nicht-Israeliten schlafen.

Frage: Wie kommt es dann zur Verbindung der Verse mit Homosexualität?

Töyräänvuori: Wir haben bisher darüber gesprochen, wie diese Verse in der Zeit ihrer Entstehung gedacht waren. Es gibt aber auch noch eine Rezeptionsgeschichte. Denn der Kontext der Verse hat sich verändert – und mit ihm die Interpretation. Etwa im zweiten Jahrhundert vor Christi Geburt breitete sich der Hellenismus im Nahen Osten aus, die Menschen dort waren also mit der Lebensrealität Griechenlands konfrontiert, zu der auch die sogenannte Päderastie gehörte: Ältere Männer aus der Stadt suchten sich junge, arme Männer aus dem ländlichen Raum und hielten sie aus – in der Regel mussten die Jugendlichen als Gegenleistung mit den älteren Männern Sex haben. Unter diesen Vorzeichen begannen die Menschen, die beiden Levitikus-Verse mit Blick auf Sex zwischen zwei Männern zu lesen. Da entstand diese Interpretationslinie zur Homosexualität, die sich bis heute gehalten hat – weil sich der Kontext geändert hat. Dem Text inhärent ist diese Ansicht nicht von Anfang an.

Von Christoph Paul Hartmann