Caritas-Vertreter wollen nach Streit um Flächentarif zurück zur Sacharbeit

Pflegetarif-Aus: Nicht von zu einfachen Erzählungen leiten lassen

Veröffentlicht am 16.07.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Freiburg ‐ Hat der Streit um einen Pflege-Flächentarif das Klima zwischen Dienstnehmern und Dienstgebern in der Caritas vergiftet? Das sieht der Dienstgeber-Chef Norbert Altmann nicht so – die Kommission sei arbeitsfähig, jetzt stünden Sachthemen an. Zum Beispiel die Zukunft des Dritten Wegs. Ein Interview.

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In den vergangenen Monaten hatte die Caritas nicht immer gute Presse. Der Grund dafür: Ihre Arbeitsrechtliche Kommission (AK) hatte die flächendeckende Einführung eines Tarifvertrags für die Pflege mit ihrem Nein verhindert. Protest kam von den Mitarbeitern der Caritas, von Gewerkschaften und aus der Theologie. Auch in der AK wurde gestritten – zuletzt blieb die Dienstgeberseite den Verhandlungen fern. Deren Sprecher Norbert Altmann ist überzeugt davon, dass die Ablehnung richtig war – aber für die Zukunft müssten die Dienstgeber lernen, ihre Positionen besser zu vertreten, sagt er im Interview mit katholisch.de. Jetzt soll es wieder zurück zur Sacharbeit gehen: Die Bundestagswahl wirft ihre Schatten voraus – nach der Wahl könnte der Dritte Weg, das System, mit dem die Kirchen ihre Tarife aushandeln, in Gefahr geraten. Doch die Caritas will ihn verteidigen.

Frage: Herr Altmann, ist die Arbeitsrechtliche Kommission gerade arbeitsfähig?

Altmann: Ja, natürlich. Es finden Sitzungen der Regionalkommissionen und der Ausschüsse statt, wir sind also selbstverständlich arbeitsfähig.

Frage: Es gab allerdings einigen Ärger in der AK. Wie wollen Sie wieder eine konstruktive Stimmung schaffen?

Altmann: Das ist ein gemeinsames Anliegen der Dienstgeber- und der Dienstnehmerseite. Wir sind hier in intensiven Gesprächen für eine konstruktive Zusammenarbeit in der Arbeitsrechtlichen Kommission.

Der Sprecher der Dienstgeberseite der Arbeitsrechtlichen Kommission der Caritas Norbert Altmann
Bild: ©Arbeitsrechtliche Kommission Dienstgeberseite; picture-alliance/ZB/Arno Burgi (Montage katholisch.de) (Archivbild)

Norbert Altmann ist Sprecher der Dienstgeberseite der Arbeitsrechtlichen Kommission. Die Kirchen haben auf Grundlage ihres grundgesetzlich geschützten Selbstverwaltungsrechts ein eigenes System des Arbeits- und Tarifrechts entwickelt. Werkzeuge des Arbeitskampfs, also Streik und Aussperrung, sind dabei ausgeschlossen, das Betriebsverfassungsgesetz gilt nicht. Stattdessen soll der Interessenausgleich im Arbeitsvertragsrecht konsensorientiert zwischen Dienstnehmern und Dienstgebern herbeigeführt werden. Alle Fragen des Arbeits- und Tarifrechts werden daher durch paritätisch besetzte Kommissionen geregelt. Im Bereich der Caritas sind dafür die "Arbeitsrechtlichen Kommissionen" zuständig. Die Bundeskommission besteht aus 62 Mitgliedern und beschließt mit Dreiviertelmehrheit. Sie trifft ihre Entscheidungen zu den Arbeitsbedingungen der Beschäftigten innerhalb der Caritas ohne Beteiligung oder Weisungsrecht anderer Organe des Verbandes.

Frage: Inhaltlich haben sich die Verstimmungen an dem Nein zum Flächentarif entzündet. Beide Seiten haben bekräftigt, dass sie die Situation in der Pflege verbessern wollen. Welche Möglichkeiten sehen Sie, um dieses Mindestniveau zu schaffen?

Altmann: Dieselben, die wir schon immer vertreten haben: Die fünfte Pflegekommission ist der richtige Ort, um die Mindestbedingungen im Bereich der Pflege festzulegen. Hier werden wir zukunftsorientiert mitwirken und natürlich auch versuchen, zu guten Mindeststandards zu kommen, die nicht durch Tarifverträge, die über den Zweiten Weg entstehen, unterlaufen werden können.

Frage: Aber momentan ist die Pflegekommission noch nicht einberufen.

Altmann: Für die Einberufung der Kommission ist die Bundesregierung zuständig. Wir hoffen, dass die Pflegekommission noch vor den Bundestagswahlen einberufen wird. Dienstgeber- und Mitarbeiterseite der Caritas haben ihre jeweiligen Kommissionsmitglieder frühzeitig gemeinsam benannt.

Frage: Die Diskussion über den Flächentarif war sehr erhitzt, in der Gesellschaft wie in der Kirche. Welche Schlüsse haben Sie aus der Diskussion gezogen – was haben Sie dadurch gelernt?

Altmann: Ich persönlich habe daraus gelernt, dass man mit guten, aber komplexen Argumenten nicht unbedingt in der Öffentlichkeit so durchdringt, wie man das gerne wollte. Leider wurde auch nicht immer die Argumentation der verschiedenen Seiten vollständig dargestellt. Ein klares sozialpolitisches Narrativ ist einfacher zu verstehen als multikomplexe Argumente. Wir arbeiten daran, unsere Position genauso verständlich zu machen. Wir stehen immer noch zu dieser Entscheidung.

Frage: Nicht nur in den Medien, auch aus der Theologie haben Sie viel Gegenwind erhalten. Eine Gruppe von Sozialethikern hat sich sehr deutlich gegen Ihre Entscheidung gewandt. Wie nehmen Sie gerade die theologische Sozialethik war? Vermissen Sie da ein Verständnis für Ihre Position?

Altmann: Ja. Vor allem vermissen wir eine Auseinandersetzung und Diskussion. Wir hatten nicht den Eindruck, dass sich die Sozialethiker überhaupt mit unseren Argumenten auseinandergesetzt haben. Eine lebendige Diskussion ist wünschenswert, am Ende geht es jedoch um einen einheitlichen praxistauglichen Kompromiss zum Wohle der Caritas, ihrer Einrichtungen und Mitarbeitenden.

Frage: Schauen wir auf die Zukunft: 2021 ist ein Superwahljahr – der Bundestag und die Arbeitsrechtliche Kommission der Caritas werden neu gewählt. Welche Themen stehen an?

Altmann: Wir brauchen nur in die Wahlprogramme hineinzuschauen: Die Frage nach dem Dritten Weg wird wichtig werden.

Stichwort: Dritter Weg

Die Kirchen haben auf Grundlage ihres grundgesetzlich geschützten Selbstverwaltungsrechts ein eigenes System des Arbeits- und Tarifrechts entwickelt. Werkzeuge des Arbeitskampfs, also Streik und Aussperrung, sind dabei ausgeschlossen, das Betriebsverfassungsgesetz gilt nicht. Stattdessen soll der Interessenausgleich im Arbeitsvertragsrecht konsensorientiert zwischen Dienstnehmern und Dienstgebern herbeigeführt werden. Alle Fragen des Arbeits- und Tarifrechts werden daher durch paritätisch besetzte Kommissionen geregelt. Im Bereich der Caritas sind dafür die "Arbeitsrechtlichen Kommissionen" zuständig, in der verfassten Kirche die "Kommissionen zur Ordnung des Diözesanen Arbeitsvertragsrechts" (KODA). Die Regelungen zum kirchlichen Arbeitsrecht werden durch Vereinbarungen im Arbeitsvertrag wirksam. Im Unterschied dazu werden im Zweiten Weg Tarifverträge zwischen zwei autonomen und von einander unabhängigen Tarifparteien abgeschlossen, die unmittelbar und zwingend für den vereinbarten Geltungsbereich anzuwenden sind. Der Dritte Weg zeichnet sich durch eine hohe Tarifbindung (über 90 Prozent) und einen hohen Anteil an Einrichtungen mit Mitarbeitervertretungen aus. (fxn)

Frage: Tragen da die alten politischen Allianzen noch – ist die Union kirchennah, Sozialdemokraten, Grüne und Linke eher nicht?

Altmann: Insgesamt haben wir durchaus Gegenwind. Bei manchen Parteien steht gar nichts dazu im Wahlprogramm. Sicherlich werden wir versuchen müssen, die Vorzüge des Dritten Wegs verständlich zu machen. Das ist viel Arbeit. Auch die Forderung nach der Abschaffung ist ein einfaches, aber unterkomplexes sozialpolitisches Narrativ, gegen das wir mit viel Argumentationsarbeit vorgehen müssen. Wir sind dafür regelmäßig im Austausch mit den Parteien, und wir wissen, dass es in allen Parteien Abgeordnete gibt, die einer Abschaffung skeptisch gegenüber stehen. Wir wissen aber auch, dass viele Abgeordnete gar nicht wissen, was da in ihrem Programm zum Dritten Weg steht und was das im Einzelnen tatsächlich bedeutet. Vielen denken, da gehe es einfach nur um antiquierte Kirchenprivilegien. Diese Fehleinschätzungen wollen wir ändern und zu einer transparenten Entscheidungsgrundlage für die Politik beitragen.

Frage: Wie tun Sie das?

Altmann: Der Dritte Weg ist vom Grundsatz her das beste Verfahren. Man muss nur die Entwicklungen beim Zweiten Weg betrachten – auch da werden immer mehr Dialogprozesse und Schlichtungsverfahren vereinbart, die eigentlich den Dritten Weg ausmachen. Das spricht für ihn. Und man muss sich fragen: Was wäre, wenn der Dritte Weg zerschlagen würde – was würde dann passieren? Unser Tarifwerk, die AVR, hat eine Marktdurchdringung von über 90 Prozent, und das als bundesweiter Tarif! Über 85 Prozent unserer Einrichtungen haben Mitarbeitervertretungen. Im Zweiten Weg gibt es viel weniger Betriebsräte, weniger als 10 Prozent der betriebsratsfähigen Betriebe.

Frage: Und warum sollte sich das ändern, wenn der Dritte Weg wegfiele?

Altmann: Leider gibt es Beispiele, in denen ehemals kirchliche Einrichtungen über einen Betriebsübergang ihre Zugehörigkeit zum Dritten Weg aufgegeben haben – die haben schnell die Tarifbindung verlassen. Sicher wäre eine mächtige Gewerkschaft wie Ver.di in der Lage, bei größeren Sozial- und Krankenhauskonzernen Tarifbindung zu erkämpfen. Aber die Caritas besteht nicht nur aus großen Konzernen, die meisten Einrichtungen sind sehr klein – das sind Einrichtungen des Sozialdienstes katholischer Frauen, des Sozialdienstes katholischer Männer, von In Via, und natürlich die vielen kleinen Ortscaritasverbände. Gespiegelt an den Erfahrungen aus der Vergangenheit glaube ich nicht, dass Einrichtungen dieser Größe ohne den Dritten Weg noch eine Tarifbindung hätten. Wir als Kirche wollen eine Tarifbindung aller unserer Träger dauerhaft erhalten – weil es nur mit dem Dritten Weg gelingt, dass Arbeitgeber mit wenigen Mitarbeitenden auch im Tarif bleiben. Es würde auch nicht gelingen, alle Einrichtungen in einen Arbeitgeberverband zu bringen – da ist die Mitgliedschaft freiwillig, und im Zweiten Weg sehen wir doch, wie viele Arbeitgeber zu einer OT-Mitgliedschaft, also einer Mitgliedschaft ohne Tarifbindung, in den Arbeitgeberverbänden wechseln. Das sind die Konsequenzen, denen sich alle stellen müssen, die den Dritten Weg abschaffen wollen. Aber wie gesagt: Es ist unglaublich schwer, die Diskussion vom einfachen Narrativ von der Abschaffung von Kirchenprivilegien wieder zurück zur Realität zu bringen. Wir nehmen jedoch diese Herausforderung an und werden als Dienstgeberseite in einen noch engeren Austausch mit der Politik gehen.

Frage: Hat die Kirche im Arbeitsrecht denn keine Privilegien?

Altmann: Wir müssen uns so wie die anderen auch an die allgemeinen Gesetze halten. Man könnte sogar sagen, dass die im Zweiten Weg entstandenen Regeln privilegiert waren. Deshalb werden wir uns klar für eine Gleichwertigkeit der kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen im Vergleich zu den tarifvertraglichen Regelungen einsetzen. Das ist uns bei der Pflegereform schon gelungen: Erstmals können Träger aus dem Zweiten Weg, die derzeit nicht tarifgebunden sind, auf die kirchlichen Regelungen verweisen. Das ist ein großer Schritt nach vorne. Wir wollen erreichen, dass im Gesetzgebungsverfahren der Dritte Weg ein Wort mitzureden hat. Die Caritas ist mit über 600.000 Mitarbeitenden einer der größten Sozialverbände, und da steht es uns durchaus gut zu Gesicht, wenn wir uns auf den Weg machen, zu einem Leittarif für andere zu werden.

In der Bahnhofsmission Karlsruhe findet eine Weihnachtsfeier statt.
Bild: ©picture alliance/dpa/Uli Deck (Archivbild)

Die Caritas ist mit über 600.000 einer der größten Arbeitgeber in Deutschland. Zur Caritas gehören auch viele kleinere Einrichtungen wie die Bahnhofsmissionen, die oft in ökumenischer Trägerschaft betrieben werden.

Frage: Und was steht darüber hinaus politisch an?

Altmann: Wir sehen auch Handlungsbedarf bei Befristungen: Vieles im sozialen Bereich läuft über Projektförderungen – aber es gibt keine Rechtsgrundlage für eine Projektbefristung von Stellen. In der Corona-Krise hat sich gezeigt, dass das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz eine Regelung braucht, mit der kirchliche Mitarbeitende in anderen Einrichtungen aushelfen können – das gab es in der Praxis häufiger, wenn durch Corona-Ausbrüche viele Mitarbeitende ausgefallen sind und der Dienst nur durch das Ausleihen von Kräften aus anderen Einrichtungen sichergestellt werden konnte. Das hat gut und solidarisch funktioniert – nur eine ordentliche Rechtsgrundlage gibt es dafür nicht. Schließlich braucht es eine Flexibilisierung bei der Arbeitszeit.

Frage: Flexibilisierung im Zusammenhang mit Arbeitszeit hören Mitarbeiter nicht immer gerne. Was sind Ihre Pläne?

Altmann: Wir sind der Meinung, dass wir als Kommission nur den Rahmen festschreiben müssen. Gefüllt werden muss dieser Rahmen dann allerdings über Dienstvereinbarungen, die vor Ort verhandelt werden. Dazu braucht es dann auch einen politischen Rahmen, der diese örtlichen Lösungen erlaubt und nicht von oben alles regelt. Wir haben einen Bewerbermarkt, wir konkurrieren im Wettbewerb mit Arbeitsbedingungen, etwa der verlässlichen Planung von freien Tagen. Arbeitgeber, auch im Bereich der Caritas, die an einer Sechstagewoche festhalten oder ständig Zwölf-Tage-Schichten fahren, werden sich fragen müssen, ob sie dann noch Bewerber finden. In einem Bewerbermarkt sind Arbeitgeber gut beraten, wenn sie sich an den Interessenlagen des Mitarbeitenden orientieren und sich fragen, wie sie zum idealen Arbeitgeber werden – da konkurrieren auch die Träger innerhalb der Caritas miteinander.

Frage: Auf dem Bewerbermarkt konkurriert die Caritas unter den Bedingungen der Loyalitätspflichten des kirchlichen Arbeitsrechts. Kann die Kirche auf dem Bewerbermarkt mit dieser Grundordnung bestehen, oder sehen Sie auch bei den Anforderungen an die Loyalität und Lebensweise von Mitarbeitenden Änderungsbedarf?

Altmann: Derzeit sind sie kein Hemmnis. Die letzte Änderung im Jahr 2015, die noch einmal gestufte Loyalitätsobliegenheiten eingeführt hat, war eine gute Weiterentwicklung. Aktuell arbeitet eine bischöfliche Arbeitsgruppe an einer weiteren Fortentwicklung, und auch wir als Dienstgeber müssen schauen, ob die Grundordnung für Menschen ein Hemmnis ist, sich bei unseren Einrichtungen zu bewerben. Auf der anderen Seite müssen wir als Arbeitgeber aber überlegen, was wir für ein Profil haben wollen. Unsere Einrichtungen sollen ein christliches und katholisches Profil haben. Das ist unsere Stärke im Markt – und dafür brauchen wir Mitarbeitende, die sich an diesem Profil orientieren.

Von Felix Neumann

Hintergrund: Konflikt um den Pflege-Flächentarif

Die Arbeitsrechtliche Kommission hatte Ende Februar einem Antrag auf flächendeckende Einführung des Tarifvertrags für die Altenpflege überraschend nicht zugestimmt. Für die Beschlussfassung wäre eine Zwei-Drittel-Mehrheit notwendig gewesen. Die Dienstgeberseite hatte Befürchtungen geäußert, dass ein Flächentarif die Pflicht von Kostenträgern zur Refinanzierung der höheren Caritas-Sätze gefährden würde. Dem traten Vertreter der Dienstnehmerseite entgegen. Die Ablehnung des Flächentarifs hatte zu einer großen öffentlichen Debatte geführt. Unter anderem hatten sich 17 Professoren für katholische Sozialethik mit einer Stellungnahme zu Wort gemeldet, in der sie eine erneute Abstimmung forderten, die Gewerkschaft ver.di rief zu Protesten auf. Caritas-Präsident Peter Neher, der selbst nicht Teil der Arbeitsrechtlichen Kommission ist, betonte, dass es für eine erneute Abstimmung keine Grundlage gebe, auch wenn er sich ein anderes Ergebnis gewünscht hätte. Zu einer erneuten Abstimmung in der Arbeitsrechtlichen Kommission kam es nicht, stattdessen wuchsen die Spannungen zwischen Dienstnehmern und Dienstgebern. Beide Seiten betonen den Willen zur konstruktiven Zusammenarbeit. (fxn)