Kirchenaustritte: Was nicht in den Statistiken der Kirchen steht...
Seit rund 300 Jahren steht sie da. Und es macht nicht den Eindruck, als wolle die evangelische Kirche von Landin im Havelland so bald weichen. Der gedrungene Fachwerkbau in dem kleinen Ort etwa anderthalb Autostunden westlich von Berlin hat erfolgreich den Stürmen der Zeit getrotzt. Vor ein paar Jahren allerdings sah es so aus, als hätte sein letztes Stündlein geschlagen. Aufgrund "massiver Bauschäden" war das Gotteshaus nicht mehr nutzbar – bis Gerd Dittrich und seine Mitstreiter auf den Plan traten.
Der 58-jährige Tischler und Betriebswirt ist Vorsitzender des 2015 gegründeten Fördervereins, der sich den Erhalt der Kirche auf die Fahnen geschrieben hat. Religiöse Beweggründe seien es nicht, die ihn antreiben, sagt Dittrich und lacht. "Ich bin mit meiner Familie hierhergezogen und da war diese alte Kirche, keine Glocken läuteten mehr – und wir dachten: Hier fehlt etwas!"
Inzwischen ist die Sanierung abgeschlossen. Genutzt wird der Bau nun als Kunst- und Kulturkirche. "Das Projekt hat uns als Dorf sehr zusammengeschweißt und im Laufe der Zeit kamen dann auch religiöse Aspekte dazu, weil das einigen wichtig wurde." Kirchenretter Dittrich, wie die meisten seiner Mitstreiter nicht getauft, taucht in keiner Kirchenstatistik auf. Und trägt doch mit dazu bei, etwas vom Erbe einer Institution lebendig zu halten, die über Generationen eine Art Fundament der Gesellschaft war - und vielleicht sogar noch ist. Fundamente sind selten sichtbar.
Kirchenaustritt im Zehn-Minuten-Takt
Offenbar aber scheint dieses Fundament an vielen Ecken und Enden zu bröckeln. Das zeigt sich beispielsweise im Amtsgericht in Köln. In der Domstadt steht Kardinal Rainer Maria Woelki wegen der Aufarbeitung von Missbrauch seit Monaten in der Kritik. Das ist aber nur ein Grund für das rege Treiben, das vor Raum 37 herrscht. "Kirchenaustritte" steht auf dem Wegweiser. Hier und in einem weiteren Zimmer können die Kölnerinnen und Kölner im Zehn-Minuten-Takt diesen Schritt vollziehen.
Eine junge Frau hält noch die Quittung über 30 Euro Gebühr, die sie bar an der Kasse für den Kirchenaustritt zahlen musste, in ihrer Hand. Gleich wird sie Raum 37 betreten und die evangelische Kirche verlassen. Die Kirchensteuer sei der Grund, sagt sie. Nach einer Gehaltserhöhung habe sie bemerkt, wie viel Abgabe sie bezahle.
Nach ihr ist ein Katholik Mitte 30 an der Reihe. Über die Presse habe er die Debatte um Missbrauch in der Kirche und den Umgang mit homosexuellen Partnerschaften verfolgt, erzählt er. "Da verhält sich die Kirche schon ein bisschen rückständig."
Früher gab Kirche Halt – und heute?
Der Kitt zwischen Kirche und Gesellschaft ist porös geworden. Viele Katholiken und Protestanten verlieren offenbar den Bezug zu Gemeinden und Seelsorgern auf der Schwelle zum Erwachsenenalter. Bei Jennifer Markwiok und Johannes Brägelmann ist das anders. Sie wollen im August in einer katholischen Kirche den "Bund fürs Leben" schließen. "Wir haben uns beim Weltjugendtag kennengelernt, uns zusammen auf den Jakobsweg begeben und in unserem Alltag den christlichen Glauben gelebt", sagen die beiden, die in der Nähe von Dortmund wohnen. "Dementsprechend lag es für uns auf der Hand, dass wir kirchlich heiraten."
Taufe, Kommunion oder Firmung, Hochzeit und Beerdigung: Früher gab die Kirche ihren Mitgliedern Halt und Orientierung an den Wegmarken des Lebens. Und heute? Gibt es Menschen wie Birgit Aurelia Janetzky. Die gebürtige Frankfurterin, Jahrgang 1963, lebt in Heuweiler am Fuß des Schwarzwalds und arbeitet als Trauerrednerin. Die Theologin macht den Job, den früher Pfarrer, Pastor oder Pastorin machten. "Wenn Angehörige eine Bestattung vorbereiten, dann kommt das Thema auf: Die verstorbene Person war nicht mehr in der Kirche – oder sie war noch in der Kirche, hatte aber keine Verbindung mehr dazu", sagt Janetzky. "Dann wünscht sich die Familie häufig etwas anderes als das religiöse Ritual."
Vielleicht lässt es sich so deuten: Die Sehnsucht nach dem Ritual ist weiterhin da. Wie eine Fassade – hinter der etwas Neues entsteht. In Himmerod lässt sich in übertragenem Sinne Ähnliches beobachten. Mitten in der Eifel, umgeben von Wald, Feldern und Wiesen erheben sich die Mauern der ehemaligen Zisterzienserabtei. Rund 900 Jahre lebten hier Mönche, bis der Konvent 2017 aufgelöst wurde. Nun will das Bistum Trier das zentrale Jugendhaus der Diözese in Himmerod einrichten.
Der zuständige Beauftragte Reinhold Bohlen spricht von Aufbruchstimmung. Das Echo für die Pläne falle überwiegend positiv aus. "Alle Gebäude innerhalb der Klostermauern und der geistliche Charakter des Ortes bleiben erhalten. Das war vielen wichtig." Aus Himmerod soll eine Stätte der Begegnung werden. Für Jugendliche und junge Erwachsene, für Radfahrer oder Wanderer auf dem Eifelsteig, für Menschen, die Gott suchen oder einfach nur Ruhe. Dazwischen will sich auch der letzte Mönch von Himmerod, der 87-jährige Pater Stephan Senge, mit einbringen.
Brücken zu den Menschen bauen möchte auch Schwester Elisabeth Muche. Die 30-Jährige gehört der Gemeinschaft der Helferinnen an und leitet in Leipzig die "Kontaktstelle für Lebens- und Glaubensfragen". Das Angebot richtet sich an Leute, die spirituell auf der Suche sind. Sie selbst, räumt die gebürtige Chemnitzerin freimütig ein, beschleicht angesichts der Austrittszahlen schon mal die Angst, "allein in meiner Generation in der Kirche zu bleiben".
Kirchen wirken als Wahrzeichen über ihre religiöse Bedeutung hinaus
Aber bei näherem Hinsehen merke sie, dass dem gar nicht so sei. Mehr Sorgen bereite ihr die Beobachtung, die häufig hinter den Austritten stehe, nämlich dass die Institution Kirche ihrem Auftrag nicht gerecht werde und sich zwischen Mensch und Gott stelle. Muss nicht sein, findet Muche: "Ich glaube, dass Kirche als Gemeinschaft von Glaubenden viel Potenzial hat, Mensch und Gott in Verbindung zu bringen. Und darauf setze ich."
Mit einer kleinen Kirche im Osten Deutschlands hat die Reise angefangen, vor einer großen Kirche im Südwesten Deutschlands endet sie. Ende dieser Woche tritt Anne Christin Brehm ihr Amt als Freiburger Münsterbaumeisterin an und ist jetzt schon beeindruckt, wie stark sich viele Menschen in der Stadt Freiburg mit "ihrem" Münster identifizieren.
Das imposante Gotteshaus ziehe auch Menschen an, die keine Verbindung zur Kirche hätten. "Zugleich hoffe ich eindringlich, dass die Lebendigkeit des Münsters als Ort des Gottesdienstes und des Gebets erhalten bleibt. Für diese Zwecke ist es gebaut und über die Jahrhunderte genutzt worden."