Tagebau Garzweiler: Was wird aus der Kirche in Keyenberg?
Rund 500 Kilometer sind sie gelaufen – zu Fuß vom niedersächsischen Gorleben bis ins rheinische Braunkohlerevier. Am vergangenen Sonntag beenden christliche Umweltschützer ihren "Kreuzweg für die Schöpfung" mit einem Gottesdienst unter freiem Himmel in Lützerath. Der Ort, der zur Stadt Erkelenz zählt, liegt direkt am "Loch", wie manche Menschen in der Region den Tagebau Garzweiler des Energiekonzerns RWE nennen.
"Wir kämpfen für den Erhalt der Schöpfung. Wir kämpfen dafür, dass diese Welt für uns und vor allen Dingen für die nächsten Generationen lebenswert bleibt", sagt eine der Initiatorinnen des Kreuzwegs, die evangelische Theologin Cornelia Senne von der Organisation "Kirche(n) im Dorf lassen".
Es ist schon Abend, aber immer noch hell, als zwei der Pilger ein großes, gelbes Kreuz an einer von Bäumen und Büschen zugewachsenen Betontreppe aufstellen. Bei manchen fließen die Tränen. Die Christen vermuten an dieser Stelle eine frühere Kapelle. Vor beinahe einem Monat hatten sie dieses Kreuz in Gorleben in Empfang genommen. Dort protestieren Umweltschützer seit den späten 1970er Jahren gegen ein Atommülllager. 1988 zeigten Atomkraftgegner aus dem bayerischen Wackersdorf Solidarität und pilgerten mit einem Kreuz bis nach Gorleben. In Gedenken an diese Aktion trug die Anti-Braunkohle-Initiative nun ihr eigenes Kreuz quer durch die Republik.
"Wir sind genau auf dem richtigen Weg und wir müssen weitermachen"
Während des Gottesdienstes sind die Pilger eingeladen, von ihren Erfahrungen zu berichten. Nur drei aus der Gruppe sind die gesamten rund 500 Kilometer gelaufen, weitere Unterstützer schlossen sich etappenweise an. Theologin Senne schätzt, dass täglich jeweils etwa 25 Menschen unterwegs waren – immer in wechselnden Besetzungen.
Zwei vom "harten Kern" kommen aus Schleswig-Holstein. Dort setzt sich das Paar ebenfalls für bedrohte Dörfer ein – nämlich auf den Halligen. Fünf Etappen mitgelaufen ist ein Umweltschützer aus Aachen: "Wir sind genau auf dem richtigen Weg und wir müssen weitermachen."
Senne hofft, dass die Gruppe das Gefühl von Solidarität teilen könne "mit Menschen, die es noch nicht kennen". Sie selbst lebt in der Eifel. Schon länger engagiert sie sich gegen die Rodung des Hambacher Forsts – in Keyenberg ist sie zum ersten Mal Anfang 2020 gewesen. "Auch hier muss man kämpfen und was tun", findet sie. "Wir versuchen, die Kirchen im Dorf wieder zum Leben zu erwecken und christlichen Widerstand sichtbar zu machen." Von den Pilgern ist niemand selbst von der Zerstörung der Gemeinden betroffen, deren Umsiedlung in vollem Gange ist. Es gibt aber enge Verbindungen zur örtlichen Initiative "Alle Dörfer bleiben".
Die hat die Pilger bereits einige Stunden vor dem Gottesdienst im ebenfalls bedrohten Nachbarort Keyenberg mit Kaffee und Kuchen empfangen. Unter einem Pavillon halten eine Vertreterin des Diözesanrats der Katholiken im Bistum Aachen sowie eine evangelische Pfarrerin aus der Region Reden – vor der alten Dorfkirche. Das Denkmal, dessen Spuren bis 893 zurückreichen, würde mit dem Ort verschwinden, sollte die Politik nicht einschreiten. "Es geht nicht nur um die Dörfer, sondern auch um das Klima", sagt Barbara Ziemann-Oberherr von "Alle Dörfer bleiben". Sie lebt im alten Keyenberg und will dort bleiben. "Wir sind die Rechtsanwälte unserer Kinder."
Seit Dezember 2016 wird Keyenberg umgesiedelt. Nördlich von Erkelenz entstehen die neuen Ortschaften. Rheinischer Klinkerbau steht neben frisch verputzten Häusern und Baustellen. In manchen Vorgärten blühen schon Blumen, in anderen liegt noch der Kies. Von den einst 840 Keyenbergern sind der Stadt Erkelenz zufolge bereits rund 300 umgesiedelt. Rund 240 sind noch im alten Ort gemeldet. Nur ein Teil von ihnen will bleiben.
Ein Kampf seit Jahrzehnten
Unter dem Pavillon im alten Keyenberg und während des Gottesdienstes direkt am "Loch" haben die Umsiedler keine Stimme. Dabei war das Dorf auch ihre Heimat. In der Kirche wurden ihre Ehen geschlossen, ihre Kinder getauft und ihren Toten die letzte Ehre erwiesen. Viele von ihnen haben sich Jahre, wenn nicht Jahrzehnte gegen die Umsiedlung gewehrt. Sie haben Briefe geschrieben, Demonstrationen organisiert und sind vor Gericht gezogen.
"Man war müde des Kämpfens", erklärt die Keyenbergerin Agnes Maibaum, die in zwei Monaten ins neue Dorf ziehen will. Sie und ihr Mann hatten nach ihrer Hochzeit 1984 im alten Ort ein Haus gebaut – obwohl damals schon klar war, dass der Tagebau ein Problem werden könnte. Das junge Ehepaar hatte Hoffnungen und hat sich gewehrt. Politik und Justiz schätzten die Versorgungssicherheit der Allgemeinheit mit Energie aber stets höher ein als das Eigentumsrecht der Menschen am Tagebau – zumindest bis vor Kurzem. Fast 40 Jahre nach Maibaums Hochzeit ist die Gesellschaft sensibler geworden, was Umweltthemen angeht. Der Druck auf die Politik steigt.
Agnes Maibaum hofft, dass auch in ihrer neuen Nachbarschaft so etwas wie eine Dorfgemeinschaft entstehen kann. Sie ist Vorsitzende eines Vereins, der in Nicht-Corona-Zeiten zum Beispiel den Sankt-Martins-Zug organisiert. Im neuen Ort wird auch eine Kirche mit Gemeindezentrum gebaut. Die Kosten liegen bei rund fünf Millionen Euro. Maibaum setzt sich mit anderen dafür ein, dass Teile aus der alten Kirche als Erinnerungsstücke in das neue Gebäude kommen. Der Plan sieht zum Beispiel vor, dass das sogenannte Plektrudis-Fenster in die neue Fassade eingesetzt wird.
Der Denkmalschutz hat diesen Ideen aber vor Kurzem einen Strich durch die Rechnung gemacht. Das könnte auch etwas mit der jüngsten Leitentscheidung der nordrhein-westfälischen Landesregierung zum Tagebau zu tun haben. Demnach soll erst Ende 2026 klar sein, was mit den fünf Dörfern nördlich von Garzweiler passiert – ob sie abgerissen werden oder erhalten bleiben.
Auch das Bistum Aachen hat eine anstehende Entscheidung erst einmal auf Eis gelegt. Die Kirche im alten Keyenberg ist bereits an RWE verkauft, diesen März hätte sie eigentlich entwidmet werden sollen. Bischof Helmut Dieser verweigerte jedoch seine Zustimmung – vorerst. "Ein Erhalt der Dörfer ist möglich, und eine konsequentere Reduktion der Tagebaue und der CO2-Emissionen sind zum Klimaschutz dringend nötig", erklärte er im Januar. Nach der Leitentscheidung von März kritisierte Dieser die entstandene Planungsunsicherheit für die Menschen vor Ort. "Wir erleben in den Gemeinden eine erhebliche Verunsicherung."
"Das Schlimmste, was uns passieren konnte"
Der Aufschub von Landesregierung und Bistum gibt der Initiative für die alten Dörfer Hoffnung, ihre Heimat retten zu können. "Er setzt die richtigen Statements", lobt Aktivistin Ziemann-Oberherr den Bischof. Für "Kirche(n) im Dorf lassen" ist die Kirche im alten Keyenberg ein schützenswertes Kulturgut, das erhalten bleiben muss.
Viele Umsiedler schütteln hingegen den Kopf. Nach Jahrzehnten des Widerstands haben sie sich für ein neues Leben entschieden, das endlich beginnen soll. "Das ist das Schlimmste, was uns passieren konnte", sagt Agnes Maibaum zur Leitentscheidung der Landesregierung. Auch zu Bischof Diesers Vorerst-Stopp findet sie keine guten Worte.
Die Demonstrationen gehen weiter
In Lützerath steht die Sonne tief. Der Gottesdienst der Pilger endet am Lagerfeuer. Kommendes Wochenende werden einige von ihnen wieder in den Dörfern sein. Dann beginnt das Festival "Kultur gegen Kohle" am Tagebau. Hunderte Demonstrierende aus ganz Deutschland werden in Keyenberg, Lützerath und Co. gegen den Raubbau an der Natur protestieren. Die Klimaschützer sind heutzutage besser vernetzt und mobiler als in den 1980er und 1990er Jahren.
Agnes Maibaum befürchtet, dass mit den Aktivisten auch die Polizisten in das alte Dorf kommen. Die Einsatzkräfte würden sie daran hindern, in ihr Haus zu gelangen. Ähnliche Vorfälle habe es in der Vergangenheit gegeben, erzählt Maibaum. Sie werde deshalb so viel Zeit wie möglich auf ihrer Baustelle im neuen Dorf verbringen. Ziemann-Oberherr hingegen freut sich über die Umweltschützer und die Aufmerksamkeit für ihre Sache. "Solange es um Keyenberg geht, ist mir alles recht."