Klaus Mertes: Missbrauchsaufarbeitung der Kirche für viele vorbildlich
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Als der Berliner Schulleiter Pater Klaus Mertes vor elf Jahren einen Brief an seine ehemaligen Schüler schrieb, dachte er nicht, dass der ein Erdbeben auslösen würde. Die Vorgänge am Canisius-Kolleg machten den Anfang der Aufklärung sexuellen Missbrauchs in der Kirche. Wie steht es aber heute um die Aufklärung? Wird der Missbrauch missbraucht? Und warum ist die Kirche sogar Vorreiter beim Thema Aufarbeitung?
Frage: Die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der Kirche führt zu vielen Konflikten, die anscheinend mit den Grundstrukturen der Organisation zu tun haben. Kann die Kirche überhaupt ihren eigenen Missbrauchsskandal selbst aufarbeiten?
Mertes: Das kann sie und das muss sie, aber sie braucht Hilfe von außen. Die Unabhängigkeit der Aufklärung ist ein ganz wichtiger Punkt. Wie das genau rechtlich aussieht, ist eine andere, komplexe Frage. Aber die Kirche muss sich selbst daran beteiligen. Es gibt keine Aufarbeitung ohne die Selbstbeteiligung der Institution. In dem Zusammenhang hat auch der Synodale Weg sein Recht, weil er genau diese Themen anspricht. Zwar lassen sich diese Themen nicht auf Missbrauchsprävention und Aufarbeitung allein begrenzen. Aber dass der Anlass dazu gegeben ist, ist offensichtlich.
Frage: Vor kurzem haben Sie in dem Kontext gesagt, dass man Missbrauchsaufarbeitung und Kirchenpolitik - Frauenweihe, Fragen des Zölibats - nicht vermischen darf. Wie meinen Sie das?
Mertes: Man muss unterscheiden, finde ich. Das ist ein wichtiger Punkt. Es geht darum, die Dinge nicht zu vermischen. Es geht nicht darum, die Berechtigung der jeweiligen Themen anzuzweifeln. Also das eine ist die Aufarbeitung mit den Betroffenen. Es gibt ganz viele Betroffene, denen ist es völlig egal, ob die Kirche den Zölibat aufhebt oder nicht. Das ist nicht deren Thema. Da geht es um die Frage der Aufklärung, der Entschädigung, der Hilfe, vielleicht noch mal Prävention, weil es wichtig ist, dass sich so etwas nicht wiederholt.
Dann gibt es aber auch eine Fragestellung, die über die Kommunikation mit den Betroffenen und die Gerechtigkeitsfrage hinausführt, nämlich: Was müssen wir an uns selbst verändern, damit wir sensibler und hörender werden für Betroffene von sexualisierter Gewalt in der Kirche? Denn dass es diese Gewalt auf die eine oder andere Weise weiter geben wird, ist ja sehr wahrscheinlich. Es gibt kein System in der Welt, das das hundertprozentig verhindern kann. Aber was können wir bei uns ändern, um aufmerksam zu werden und die Mittel in der Hand zu haben, dagegen vorzugehen, es angemessen anzugehen?
Da kommen wir dann tatsächlich in die systemischen Fragen hinein. Ich bin einfach nur dafür, die beiden Diskurse zu unterscheiden, zwischen der Gerechtigkeit für die Opfer in der Auseinandersetzung und im Gespräch mit den Betroffenen - und den kirchen-reformerischen Fragen, zumal diese ja auch noch tiefere Gründe haben als nur die systemische Prävention. Nehmen Sie das Beispiel Zulassung der Frauen zur Priesterweihe, die ist ja begründet in der gleichen Würde von Mann und Frau, wie sie das Evangelium sieht. Wir instrumentalisieren doch nicht die Frauenfrage, um männerbündische Loyalitätsstrukturen der Kirche aufzubrechen, damit weniger sexualisierte Gewalt da ist. Da verstehe ich die Frauen, die sagen: Wir fühlen uns instrumentalisiert.
Frage: Das Argument "Missbrauch des Missbrauchs" wird aber auch häufig von Verharmlosern verwendet. Ist das nicht eine gefährliche Argumentation?
Mertes: Das Problem ist: Es gibt ja den Missbrauch des Missbrauchs. Wenn Erzbischof Viganò, um ein krasses Beispiel zu nennen, den Fall McCarrick dazu benutzt, um die Glaubwürdigkeit von Papst Franziskus zu diskreditieren, dann missbraucht er den Missbrauch. Also einer der "Obervertuscher" missbraucht den Missbrauch, um jetzt einen Aufklärer zu diskreditieren. Das ist Missbrauch des Missbrauchs.
Aber auch da muss man unterscheiden. Es gibt auch die anderen Kreise, die den Missbrauch des Missbrauchs benutzen, um überhaupt die Fragen der systemischen Prävention auszuklammern. Und da muss man natürlich ganz klar sagen: Das ist kein Missbrauch des Missbrauchs, sondern es ist Teil einer systemischen Aufarbeitung, der in der Kirche ansteht.
Frage: Im Moment wird die Aufarbeitung von der Kirche mit Unterstützung von Betroffenen geleistet. Kann das überhaupt funktionieren, wenn die Aufarbeitung durch Täter und Opfer geschieht, und nicht unabhängig?
Mertes: Der Runde Tisch der Bundesregierung hat legitimerweise gesagt: Wir sehen unsere Aufgabe darin, die Opfer zu stärken. Aber wenn es dann zu Entscheidungen kommt, dann muss es eine unabhängige Institution geben, die z.B. Strafen festlegt. Das ist ja in der Tat ein bekanntes Rechtsstaatsprinzip. Wenn Opfer die Strafe in der Hand haben, dann eskaliert es natürlich. Wenn Opfer über die Entschädigung entscheiden, eskaliert eben die Entschädigung. Das ist ein Thema aller Kulturen seit 4.000 Jahren. Ich denke an Genesis 24: Einen Mann erschlage ich für eine Wunde und einen Knaben für eine Strieme. Eine Strafe legt eine unabhängige Instanz fest.
Frage: Warum klappt das bei uns nicht? In anderen Ländern existiert sowas ja.
Mertes: In unserem Fall hat es etwas zu tun mit dem Staat-Kirchen-Verhältnis. In den angelsächsischen Ländern - es gibt auch einige Länder, in denen gar nichts klappt - gibt es zum Beispiel die "Royal Commisions". Da kann der Staat einfach auf die Institution zugehen und sagen: Macht die Archive auf, her damit! Der Bischof von Belfast sagte vor kurzem, er empfindet das als eine wahnsinnige Entlastung für die Kirche, dass sie nicht selbst ihre Archive durchstöbern muss. Das geht in Deutschland aufgrund des Selbstbestimmungsrechts der Kirche nicht. Das im Übrigen natürlich auch gegen autoritäre Regierungen und Diktaturen erkämpft wurde. Kulturkampf, 19. Jahrhundert, das hat viel mit Geschichte zu tun.
Also musste ein anderer Weg gefunden werden, das zu tun. Der Weg, der jetzt gefunden worden ist, ist der der sogenannten "unabhängigen Aufarbeitungskommission". Ich will das jetzt nicht alles schlecht reden. Immerhin ist das ja auch in Zusammenarbeit mit einer staatlichen Institution, dem unabhängigen Bauauftragten der Bundesregierung, geschehen. Wollen wir sehen, wie es weitergeht. Es muss eine Struktur der Aufarbeitung gefunden werden, weil ja klar ist: Die rein juristisch strafrechtliche Aufarbeitung reicht nicht.
„Das ist ein allgemein menschliches und gesellschaftliches Problem. Deswegen finde ich, dass die Kirche der Gesellschaft einen Dienst tut, wenn sie es bei sich selbst aufarbeitet.“
Frage: Verharmlosend wird gerne auch das Argument gebracht, dass es Missbrauch nicht nur in der Kirche gibt, auch im Sport, den Schulen, der Freizeit. Ist das vielleicht noch ein viel größeres Problem?
Mertes: Es ist ein gesellschaftliches Problem und natürlich kein kirchliches Problem. Das ist ja vollkommen klar. Das ist nur kein Entschuldigungsgrund dafür, dass die Kirche sich mit dem Thema nicht befasst. Aber natürlich stimmt das. Das ist ein allgemein menschliches und gesellschaftliches Problem. Deswegen finde ich ja, dass die Kirche der Gesellschaft einen Dienst tut, wenn sie es bei sich selbst aufarbeitet. Ich erlebe das z.B. inzwischen ganz stark: Wir haben ja unter der Hand eben auch eine sehr gute Reputation inzwischen, nicht nur eine schlechte. Die gute Reputation bekomme ich mit, wenn sich zum Beispiel Schulleiter staatlicher Schulen bei mir melden, weil sie eben auch ein Problem haben in diese Richtung. Die erkundigen sich bei mir: Wie macht ihr das in euren kirchlichen Schulen? Der ganze Bereich gilt inzwischen bei Insidern als vorbildlich. Ich habe kürzlich mit einer Mitarbeiterin der Opferschutz-Organisation Zartbitter gesprochen. Die sagte mir, wenn ich mit einem Anliegen des Opferschutzes bei einer kirchlichen Institutionen anklopfe, gehen alle Türen sofort auf. Wenn ich bei einer staatlichen Institution anklopfe, gehen alle Türen sofort zu. Also die, die mit den Vorgängen befasst sind, wissen, dass sie inzwischen in der Kirche den stärksten Partner haben.
Das ist auch so. Das kommt nur in der Öffentlichkeit nicht durch. Ist auch gut. Muss ja gar nicht. Sonst steht die gute Arbeit, die wir machen, wiederum nur unter dem Verdacht: Das sagen die nur, um wieder ein gutes Image zu haben. Aber ich bin der festen Überzeugung, die gute Arbeit an der Basis gemacht wird, wird sich durchsetzen.