Zu Ehren der Gottesmutter: Sonnenspektakel im Freiburger Münster
Tritt man aus den schmalen Sträßchen rund um das Freiburger Münster auf den gepflasterten Marktplatz, erhebt sich die heutige Kathedrale majestätisch über die Dächer der Altstadt. Das Münster zählt zu den berühmtesten gotischen Kirchen im deutschsprachigen Raum, sein filigraner Turm wird gar als schönster der Christenheit gerühmt. Mit seinem durchbrochenen Pyramidenhelm ragt er am westlichen Ende des Kirchenschiffes weit sichtbar in den Himmel. Der hochgotische Chorraum, mit dem der Münsterbau 1513 seinen Abschluss fand, streckt sich würdevoll in Richtung Schwarzwald – wie die meisten mittelalterlichen Kirchen ist auch das Freiburger Münster geostet.
Bei einem Blick in den Stadtplan oder auf Google-Maps fällt jedoch schnell auf: Die Mittelachse der Kirche liegt nicht exakt in West-Ost-Richtung, ihr Chorraum befindet sich etwas zu weit nördlich. Fast fünf Grad sind es bei genauerem Messen, um die die Achse nach Norden abweicht. Ein Zufall? Bauliche Gründe können kaum für die Schieflage verantwortlich sein: Der weitläufige Münsterplatz hätte genügend Platz in alle Richtungen geboten. Die im Verhältnis zum heutigen Bau äußerst kleine Vorgängerkirche wurde um 1200 vollständig abgetragen und stellte ebenfalls kein Hindernis dar. Haben sich die mittelalterlichen Baumeister also schlicht vermessen?
Architektur als Abbild des göttlichen Kosmos
Das Weltbild des Mittelalters hatte seinen Dreh- und Angelpunkt in Gott. Seine göttliche Ordnung war Schmuck und Zierde (griechisch: Kosmos) der ganzen Schöpfung. Jedes Ding und jedes Wesen hatte darin seinen festen Platz, an dem es von Gott gewollt war. Im Buch der Weisheit fand dieses Denken sein prägnantestes Motto: "Du aber hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet" (Weis 11,20). Aufgabe der Kunst, der Musik und der Architektur war es, diese Ordnung abzubilden – weshalb der Zufall regelrecht als Ausdruck des Dämonischen und Widergöttlichen galt.
Sakralbauten wie das Freiburger Münster sind eindrucksvolle Zeugen für dieses Streben, die Schönheit des Kosmos "nach Maß, Zahl und Gewicht" abzubilden. Überall finden sich versteckte Hinweise auf die biblische Glaubenswelt, geben architektonische Zahlenverhältnisse Auskunft über den eigentlichen Zweck all dieser Pracht: das Lob des Schöpfers. Das ganze Gebäude ist ein einziger Abenteuerspielplatz der Symbolik.
So setzen sich etwa alle Fenster auf der Südseite des Langhauses aus vier senkrechten Gliedern zusammen, die auf der Nordseite nur aus drei. Die Zahl Vier stand in der mittelalterlichen Zahlensymbol für das Weltliche – vier Himmelrichtungen, vier Elemente –, die Zahl Drei bekanntlich für die göttliche Trinität. Betritt man das Münster durch den rechten Türflügel des Hauptportals, also auf der "weltlichen Seite", begleiten einen in der reich skulpturierten Portalhalle die allegorischen Darstellungen der weltlichen Künste und die Figuren der törichten Jungfrauen aus dem Gleichnis. Beim Hinausgehen aber auf der gegenüberliegenden Seite wird man von den klugen Jungfrauen mit ihren brennenden Öllampen begrüßt. Die Aufstellung der steinernen Figuren und die Architektur der Fenster versinnbildlichen die Wandlung der Gläubigen beim Besuch des Gotteshauses: Was die weltliche Weisheit nicht erreicht, vermag ihnen das Wort Gottes zu erschließen, so die Botschaft.
Auch in der Konstruktion des Westturms finden sich unzählige Zahlenspiele. Dass der berühmte Turm der Freiburger Kathedrale so gefällig wirkt, ist alles andere Zufall: Seine 210 Ellen Gesamthöhe (rund 116 Meter) werden durch den Ansatz der filigranen Spitzpyramide bei 130 Ellen exakt im Verhältnis des Goldenen Schnitts geteilt. Aber ausgerechnet bei der Ausrichtung ihrer Kirche sollten sich die Erbauer des Münsters vertan haben?
Christus: Sonne der Gerechtigkeit
Die Ostung von Sakralbauten war zu keiner Zeit ein Selbstzweck – und überhaupt war "Osten" in der Antike und im Mittelalter keine abstrakte Richtung, wie man sie heute auf einem Kompass ablesen kann. Der Osten war der Ort des Sonnenaufgangs: Das althochdeutsche Wort "ostan" ist mit dem griechischen "eos" (Sonne) verwandt, der Begriff "Orientierung" leitet sich vom lateinischen "oriens" (Aufgang) ab. Bereits im antiken Judentum wendeten sich die Gläubigen beim Gebet nach Osten, wo Gott den Garten Eden gepflanzt hatte (Gen 2,8) und von wo man auch den Messias erwartete.
Die frühen Christen übernahmen diese Gebetsrichtung und erblickten im Licht der aufgehenden Sonne ein Bild für den wiederkehrenden Christus, den sie in Anlehnung an den Propheten Maleachi als "Sonne der Gerechtigkeit" charakterisierten: "Für euch aber, die ihr meinen Namen fürchtet, wird die Sonne der Gerechtigkeit aufgehen und ihre Flügel bringen Heilung" (Mal 3,20). Stand die Finsternis der Nacht für den Tod, so war die Morgenröte Zeichen für die Auferstehung Christi.
Die Sonne aber geht nicht jeden Tag an derselben Stelle auf: Nur zu den Tag-Nacht-Gleichen am Frühlings- und Herbstanfang tritt sie exakt im geografischen Osten über den Horizont. Davor und danach wandert der Sonnenaufgang im Laufe des Jahres jeweils ein beträchtliches Stück Richtung Norden (im Sommer) beziehungsweise Süden (im Winter). Beim Neubau einer Kirche galt es also eine Entscheidung zu treffen, "welchen" Osten man zum Orientierungspunkt des Gebets festlegen wollte.
Damit löst sich endlich das Rätsel um die verschobene Mittelachse des Freiburger Münsters. Betritt man die Kathedrale an einem klaren Morgen gegen Mitte August, erlebt man eine Überraschung: Das sonst eher schummrig dunkle Kirchenschiff ist in diesen Tagen von gleisendem Sonnenlicht erhellt. In einem breiten Strahlenbünden tritt es durch das zentrale Fenster über dem Hochaltar ein und fällt quer durch den Mittelgang bis zum über 100 Meter entfernten Hauptportal. Glitzernde Staubkörner und Weihrauchreste bilden eine Straße aus Licht und ziehen den Blick in Richtung Hochchor.
Das eindrucksvolle Spektakel findet seinen Höhepunkt just zum Patrozinium des Münsters "Unserer Lieben Frau", dem Hochfest der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel am 15. August. Rein rechnerisch geht die Sonne an diesem Datum bei rund 70 Grad auf, also noch deutlich weiter im Norden. Weil die Kirche aber fast bis an die Füße des Schlossbergs reicht, macht die Sonne schon einiges an Strecke, bis sie ihr Licht über die Kuppe dieses letzten Schwarzwaldausläufers schickt. So ergeben sich die wenigen Grad nördliche Abweichung von der geografischen Ostrichtung. Wegen der Verschiebung unserer Zeitrechnung zum Julianischen Kalender, der zur Erbauung des Münsters galt, bezieht sich die Ausrichtung strenggenommen auf einen Termin, der einige Tage hinter dem heutigen Festdatum liegt. Das astronomische Wissen und der Umgang mit den Landschaftsverhältnissen machen auf eindrucksvolle Weise das Können der mittelalterlichen Architekten deutlich.
Mariä Himmelfahrt als zweites Osterfest
Die Erbauer des Freiburger Münsters hatten nichts dem Zufall überlassen, sondern schon bei der Grundsteinlegung Orientierung am göttlichen Kosmos genommen – "nach Maß, Zahl und Gewicht". Lenkt schon die aufstrebende Architektur der Kirche alle Aufmerksamkeit Richtung Altar, so werden die Gläubigen ausgerechnet am Fest der Kirchenpatronin frontal von der aufgehenden Sonne erleuchtet: Das Symbol der Auferstehung Christi trifft auf den Glauben an die Himmelfahrt Mariens.
Zwar wurde die leibliche Aufnahme Mariens erst 1950 durch Papst Pius XII. zum offiziellen Dogma der Kirche erhoben. Das entsprechende Fest am 15. August führte Kyrill von Alexandrien aber schon im 5. Jahrhundert ein. Bereits seit der Spätantike gehörte es zum Glaubensgut der Kirche, dass Maria als "Ersterlöste" mit Leib und Seele in die Vollendung Gottes aufgenommen wurde. So gesehen verbirgt sich hinter der Stein gewordenen Verbindung von Auferstehungssonne und Marienfest auch eine theologische Aussage: In der Himmelfahrt Mariens erkennen die Gläubigen die Vorwegnahme ihrer eigenen Auferstehung – ein zweites Osterfest mitten im Hochsommer.