Kolumne: Mein Religionsunterricht

Der Religionsunterricht ist Herzensbildung

Veröffentlicht am 27.08.2021 um 15:30 Uhr – Lesedauer: 

Wentorf ‐ Die Erkenntnisse des Religionsunterrichts bringen Schüler in ihrer Persönlichkeitsentwicklung enorm voran, betont Lehrer Heinz Waldorf. Neben Naturwissenschaften und Sprachen hat der Religionsunterricht für ihn daher seine volle Berechtigung.

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Am 23. August wurde im Deutschlandfunk der Augsburger Pädagogikprofessor Klaus Zierer anlässlich seines Buches "Ein Jahr zum Vergessen" (Freiburg: Herder 2021) interviewt. In diesem Gespräch reißt Professor Zierer einen breiten Bildungsbegriff an, der den Inhalten meines Religionsunterrichts alle Ehre erweist. Schade nur, dass Zierer in der Aufzählung der an der Schule neben Mathematik, Sprachen und Naturwissenschaften ebenfalls wünschenswerten Fächern den Religionsunterricht nicht benennt.

Für ihn sind Mathematik, Sprachen und Naturwissenschaften nur ein Teil der Bildung. Er plädiert für ein breiteres Verständnis des Bildungsbegriffs. Ihm sind Kunst, Musik, Sport, Hauswirtschaft und Werkunterricht für die Bildung des Menschen "ungeheuer wichtig", denn sie sprächen "den ganzen Menschen mit all seinen Möglichkeiten" an. Unumstritten ist für Zierer die Notwendigkeit einer effektiven Vermittlung von Lehrplaninhalten, das heißt in der Schule müssten Kinder selbstverständlich lesen, schreiben, rechnen lernen. Ebenso wichtig ist ihm aber eine "freudvolle Schule". In dieser müssten zentrale Werte – er nennt Demokratiefähigkeit und Nachhaltigkeit – vermittelt werden. Schließlich sei auch eine gute Vernetzung von Unterrichtsinhalten mit anderen Lebensbereichen wünschenswert, damit Schule mit dem Leben und der Welt der Schülerinnen und Schüler etwas zu tun hat. Das Interview legt nahe, dass es in der Bildung letztlich um eine gelingende Persönlichkeitsbildung geht, die den Menschen in möglichst vielen seiner Facetten im Blick hat.

Ich lasse den Aspekt der Effizienz aus. Dass selbstverständlich Inhalte vermittelt werden, die auch zu lernen sind, ist ja wohl klar. Viele meiner Schülerinnen und Schüler wissen ihr ganzes Schulleben über ziemlich sicher, um welche Phänomene es sich (Inhalt des 5. Jahrgangs) bei Metaphern handelt.

Kaum jemand hat Bewegungskompetenzen

Klaus Zierer möchte eine "freudvolle Schule". Es braucht in vielen Stunden meines Unterrichts eine ganze lange Weile bis alle ihre Meinung geäußert haben. Ich weiß aber mittlerweile, dass bei der großen Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler schließlich die Freude gehört und gesehen zu werden Raum greift und das Unterrichtsklima beherrscht. Sehr schnell merken alle, welche immensen Vorteile es hat, wenn die Menschen in erster Linie Hörende sind; es tritt Ruhe und Stille ein – eine Qualität der Zusammenarbeit, die sich so viele Klassen nach Auskunft der Schülerinnen und Schüler offensichtlich abschminken können.

Zu Beginn dieses Schuljahres habe ich noch einmal besonderes Augenmerk auf die Ausgangssituationen gelegt. Dies schien mir wichtig angesichts einer immer wieder vorgefundenen Sitzordnung, die im Grunde nur frontalsten, lehrerzentrierten Unterricht zulässt ("Wir sind hier nicht in einer Kaserne!"). Ich möchte gern, weil ich weiß, dass sie es lieben werden, dass sich alle anschauen können. Erstes Hindernis: kaum jemand hat Bewegungskompetenzen. Dass der Stuhl auch auf der anderen Seite des Tisches stehen könnte, um die Menschen im Raum plötzlich nicht mehr mit dem Rücken anzuschauen, ist erst einmal zu entdecken (leider muss ich die Ermächtigung dazu erteilen).

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Es wird auch schnell klar, wo das Problem liegt: die Tafel! das Activboard! Das ist ja plötzlich im Rücken einiger. Nun, ich werbe dann für eine kleine Güterabwägung: auf was möchten wir mehr Wert legen, auf die Gesichter der Menschen oder auf die Tafel? Die nächste Lektion besteht darin, dass es durchaus möglich ist (bei zehn Leuten allemal, aber auch bei 23!) ohne Meldungen und ständige Ermächtigung durch den Lehrkörper in einen Diskurs einzutreten. O-Ton einer meiner Rückmeldungen vom 16.8.:"Es hat mir Spaß gemacht zu sehen, wie man sich auch mal im Unterricht ohne Melden beteiligen kann. Es war schön zu sehen, wie sich die Leute respektiert haben und nicht andere unterbrochen haben und zuende geredet haben, ohne auch nur einmal unterbrochen zu werden."

Ist es vermessen anzunehmen, dass hier auch Chancen bestehen, an der "Demokratiefähigkeit" der Kinder zu arbeiten, die Klaus Zierer gern in der Schule als Bildungsinhalt verankert sehen würde? Wir haben die Teilhabe und die Akzeptanz in diesem Schuljahr übrigens wieder mithilfe des Films "Lambs" entwickelt. Dieser Film ist sehr zu empfehlen – er ist gehaltvoll und gleichzeitig als Icebreaker (so heißt das doch heutzutage, oder?) wundervoll geeignet.

Religionsunterricht ist 1-A-Persönlichkeitsentwicklung

Ein weiterer Aspekt, der Herr Zierer im Interview benannt hat, ist die Vernetzung von Unterrichtsinhalten mit anderen Lebensbereichen. Ich möchte hier auf das oben Geschriebene verweisen. Freiheit – hier gibt es immer mal kleine Aufgaben, zum Beispiel meine liebste: die mit der roten Fußgängerampel. Bleibt stehen! Und denkt darüber nach, worin die eigentliche Freiheit besteht, im Übergehen der Regel oder in der Unterwerfung unter diese? Wer um alles in der Welt, frage ich, könnte mich dazu zwingen, bei rot über die Ampel zu gehen – außer, das ist das beliebteste Gegenargument, nachts um halb drei!? Und dass schon einmal ein Schüler aufgrund des Ethikseminars für den sterbenden Opa das Hospiz als Option in die Familie getragen hat, verdeutlicht wohl hinreichend, dass der Unterricht Relevanz haben kann.

Der Religionsunterricht ist in der Tat eine 1-A-Persönlichkeitsbildung. Man könnte es auch Herzensbildung nennen. Hier kreist der Unterricht immer wieder um den Wert der Freiheit, dessen Verständnis nicht nur bei den meisten Schülerinnen und Schülern ausbaubedürftig ist. Dass Freiheit, da sind sich moderne Denkerinnen und Denker und die uralte Tora und die etwas weniger uralte Bergpredigt meines Erachtens einig, nur vor dem Hintergrund ihrer (Selbst)-Beschränkung gedeihen kann, ist in jedem Kurs eine der fundamentalen Erkenntnisse und bringt die Schülerinnen und Schüler ungemein voran in ihrer Persönlichkeitsentwicklung. Wer Raum greifen und seine Freiheit gewinnen möchte, muss dem Nachbarn Raum lassen, mithin zurücktreten, sich beschränken. Wer gelingende und tragfähige Liebe erleben möchte, muss seine Macht in der Ohnmacht, den anderen nicht zu zwingen, entdecken. Wir üben diese für meine Begriffe fundamentalen Haltungen ein; und nach Auskunft vieler, denen ich es zugemutet habe, hilft es offenbar sich zurechtzufinden.

Niemals würde ich die Berechtigung irgendeines Fachs in der Schullandschaft in Abrede stellen. Aber ich bestehe darauf anzuerkennen, dass auch der Religionsunterricht in beschriebenem Sinn seine Berechtigung hat.

Von Heinz Waldorf

Der Autor

Heinz Waldorf ist Lehrer am Gymnasium Wentorf bei Hamburg.

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