Ex-Kanzlerkandidat Schulz: Verlieren in der Demokratie "keine Schande"
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Martin Schulz trat 2017 im Wahlkampf als SPD-Kanzlerkandidat gegen Amtsinhaberin Angela Merkel an – und unterlag. Im Himmelklar-Podcast spricht der frühere Präsident des Europäischen Parlamentes und heutige Vorsitzende der Friedrich-Ebert-Stiftung über die menschliche und psychische Belastung des wichtigsten Bewerbungsverfahrens des Landes. Mit der Wahlniederlage umzugehen war für ihn auch eine Art Trauerarbeit.
Himmelklar: Herr Schulz, eigentlich ist der Job Bundeskanzler alles andere als zu beneiden. Egal was man macht, irgendjemand ist unzufrieden. Was bringt einen dazu, sich darauf zu bewerben?
Schulz: Naja, Politikerinnen und Politiker bewerben sich in der Demokratie um verantwortungsvolle Mandate, weil sie sich selbst für geeignet halten und weil auch andere sie für geeignet halten, sonst wird man ja nicht nominiert. Das Amt eines Bundeskanzlers, um das ich mich damals beworben habe, ist natürlich aus der Sicht eines Europapolitikers ein sehr besonderes Amt, weil niemand in Brüssel eigentlich eine stärkere Position hat. Vielleicht der französische Staatspräsident oder der italienische Premierminister, aber der deutsche Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin haben in der Europapolitik auf jeden Fall ein gewichtiges Wort.
Mir ging es bei meiner Bewerbung darum, dass die Bundesrepublik Deutschland eine stärkere, aktivere Rolle bei der Vertiefung der europäischen Politik spielen sollte, was nebenbei bemerkt auch jetzt immer noch notwendig ist.
Himmelklar: Also hat es von den Parteikollegen von der SPD weniger Überredungsarbeit gebraucht, sondern Sie haben sich eher drauf gefreut, sich auf diese Position zu bewerben?
Schulz: Eigentlich beides. Ich war nicht der geborene Kanzlerkandidat, als ich das im Januar 2017 übernommen habe. Ich habe das in etlichen Interviews und vielen Darstellungen auch gesagt: Vor der Türe "Kanzlerkandidat der SPD" stand im Januar 2017 keine lange Schlange. Da drängte sich niemand. Ich habe das damals auch aus Parteiloyalität gemacht.
Himmelklar: Sie haben gerade gesagt, Politiker wollen Verantwortungspositionen. Da müsste man doch eigentlich denken, dass es eine lange Liste von Leuten gibt, die so eine Chance wahrnehmen wollen?
Schulz: Im Dezember 2016 und im Januar 2017 lag die SPD bei 19 bis 20 Prozent. Da war der Andrang nicht übermäßig groß. Und ich habe es mir trotzdem angetan, weil unter denjenigen, die in Betracht kamen, ich damals derjenige war, der am ehesten noch die Chance hatte, ein vernünftiges Ergebnis zu holen. Und es ging damals ja auch darum, die SPD als stabilen Faktor im deutschen politischen System zu erhalten, was uns ja auch gelungen ist.
Himmelklar: Auch im aktuellen Wahlkampf merken wir: Es geht um jedes Wort, jede Geste, jede Mimik sogar. Ist das nicht ein unglaublicher Druck, wenn man sich über ein halbes Jahr keinen Fehltritt, kein Fettnäpfchen erlauben darf?
Schulz: Das ist so. Die Öffentlichkeit schaut natürlich genau hin. Und das ist auch richtig so, wem man die höchste exekutive Macht im Staate überträgt. Die Entscheidungen, die Männer und Frauen in so hohen Regierungsämtern zu treffen haben, betreffen am Ende jeden einzelnen Bürger, haben Auswirkungen auf eine ganze Generation von Menschen der ganzen Nation – unter Umständen sogar darüber hinaus.
Ist diese Person geeignet, dieses Amt auszuüben? Dass genau hingeschaut wird – diese Aufmerksamkeit finde ich absolut richtig. Darauf muss man sich einstellen, wenn man ein solches Amt anstrebt. Was nicht richtig ist, ist, dass aus Banalitäten und Kinkerlitzchen große Probleme gemacht werden. Aber dafür ist weniger der Stand der Politiker zuständig als die Medien.
Himmelklar: Aber das heißt dann im Alltag ja auch, dass man nicht mal abends problemlos in die Kneipe oder ins Restaurant gehen kann, weil man immer beobachtet wird. Jedes falsche Wort könnte sich auf die Prozentzahlen bei den Umfragen auswirken.
„Ich kenne kaum Leute, die im Wahlkampf noch die Zeit finden, ins Restaurant zu gehen, um in Ruhe zu essen oder in der Kneipe in Ruhe ein Bier zu trinken.“
Himmelklar: Aber das heißt dann im Alltag ja auch, dass man nicht mal abends problemlos in die Kneipe oder ins Restaurant gehen kann, weil man immer beobachtet wird. Jedes falsche Wort könnte sich auf die Prozentzahlen bei den Umfragen auswirken.
Schulz: Das ist zugespitzt in Wahlkampfzeiten in besonderer Weise der Fall. Ich kenne auch kaum Leute, die im Wahlkampf noch die Zeit finden, ins Restaurant zu gehen, um in Ruhe zu essen oder in der Kneipe in Ruhe ein Bier zu trinken. Da kommen Sie ja gar nicht zu in so einem Wahlkampf. Spitzenpolitikerinnen und -politiker stehen aber grundsätzlich unter Beobachtung. Im Wahlkampf ist das natürlich in ganz besonderer Weise der Fall.
Himmelklar: Stichpunkt TV-Duelle, beziehungsweise jetzt Trielle. Da ist das ja noch mal zugespitzter, weil man wirklich rhetorisch perfekt auf Fragen antworten muss, sich quasi die Argumente schon bereitgelegt haben muss, obwohl man immer jemand versucht, die Kandidaten in die Pfanne zu hauen. Wie haben Sie das erlebt?
Schulz: Sie müssen sich darauf einstellen, dass in der Bandbreite der virulenten Themen, die in einem solchen Wahlkampf eine Rolle spielen, Fragen kommen. Und darauf können Sie sich schon vorbereiten. Es ist ja nicht so, als wäre irgendeine Frage, die da kommt, nicht erwartbar. Man weiß nicht, in welcher Form sie kommen. Man weiß auch nicht, wer sie stellt und wie zugespitzt sie formuliert ist, aber das Thema kennt man in der Regel. Und dann kommt es eben darauf an, ob man in der ausreichenden Kenntnis des Sachverhalts und in der notwendigen Seriosität, aber auch Spontanität antworten kann. Das ist eine große Herausforderung, weil das ja auch vor einem Millionenpublikum stattfindet.
Aber wenn Sie in so einem Studio dann stehen und haben die Journalisten gegenüber, dann ist das wie bei Fußballspielen. Alle sind vor dem Anpfiff sehr nervös, aber wenn dann der erste Ball gespielt worden ist, konzentriert man sich aufs Spiel. Diese Dinge, "Ist das eine so belastende Situation?", "Wer schaut da alles zu?", und der Druck, "Du musst jetzt höllisch aufpassen" sind dann weg. Das macht man dann einfach. Das läuft dann. Vorher ist der Druck größer – und auch hinterher – als während der Debatte selbst.
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Himmelklar: Aber ist es nicht ein bisschen unfair, dass es im Endeffekt mehr um eine schauspielerische Leistung geht als um die politischen Inhalte?
Schulz: Es geht ja nicht nur um Schauspiel. Klar, die Performance spielt auch eine große Rolle, aber es geht auch um Inhalte. Das kann man nicht ganz ausschließen. Sie haben das im US-Wahlkampf gesehen, wie es einem Entertainer wie Trump, der natürlich ein jahrelanger Fernsehprofi war, einfacher gelang, vereinfachte Botschaften rüberzubringen.
Aber was heißt schon unfair? Politik ist keine Frage von Fairness oder Unfairness, sondern es ist eine Frage auch von Sachkunde. In der Sache muss man sattelfest sein und den Eindruck rüberbringen können, dass man sicher ist in dem, was man sagt und in dem, was man tut, sodass die Leute einem vertrauen können. Dazu gehört natürlich ein gewisses Vermittlungstalent. Das kann man schauspielerisches Talent nennen. Aber ohne die Fähigkeit, Wählerinnen und Wählern rüberzubringen, ich bin ein vertrauenswürdiger Mann oder eine vertrauenswürdige Frau, braucht man, glaube ich, gar nicht in die Politik zu gehen.
Himmelklar: Gehen wir zum Wahltag. Sie bekommen als Parteien ja schon im Laufe des Tages mitgeteilt, wie sich die Zahlen entwickeln. Aber wie war dieser Moment um 18 Uhr, als Sie auch vor der Öffentlichkeit die Wahlniederlage eingestehen mussten? Was macht dieser Moment mit einem, auch emotional?
Schulz: Ich wusste, dass das Ergebnis schlechter ausfallen würde, als wir es uns erhofft hatten. Darauf konnte ich mich die letzten Tage vor der Wahl auch einstellen. Das habe ich auch getan. Wir haben dann am Wahlabend gemeinsam überlegt: Wie gehen wir damit um? Und ich habe an dem Wahlabend etwas erlebt, was ich in dieser Form eben nicht erwartet hatte.
Ich bin aus meinem Büro, ich glaube kurz nach 18 Uhr, dann ins Willy-Brandt-Haus gegangen und habe gesagt: Das ist ein bitterer Tag, eine bittere Niederlage. Und als ich den Satz sagte: "Mit dem heutigen Tag ist unsere Zusammenarbeit mit CDU und CSU beendet", brandete im Willy-Brandt-Haus ein Beifall auf, als hätten wir die Wahl gewonnen. Damit hatte ich nicht gerechnet, dass das so eine Erleichterung bei den Leuten war. Und deshalb verlief dieser Wahlabend für mich ab diesem Zeitpunkt etwas anders, als ich es ursprünglich erwartet hatte.
„Eine Niederlage in dieser Form, die man ja auch vor einem Millionenpublikum wegstecken muss in einer würdigen und die eigene Selbstachtung wahrenden Form – das ist klar, das sind schwere Momente im Leben.“
Himmelklar: Das ist aber sicher auch eine Frage der Verarbeitung der Enttäuschung und in gewissem Sinne auch Trauerarbeit, oder? Sie haben ja ein knappes Jahr genau auf diesen Moment hingearbeitet.
Schulz: Ja, was die menschliche Komponente angeht. Eine Niederlage in dieser Form, die man ja auch vor einem Millionenpublikum wegstecken muss in einer würdigen und die eigene Selbstachtung wahrenden Form – das ist klar, das sind schwere Momente im Leben. Diese Demütigung, die der Wähler einem zufügt, "Du hast nicht gewonnen", "Du bist nicht der Beste, du bist maximal der Zweite" – das war an dem Abend ja meine Situation, das muss man wegstecken.
Aber das kann man auch verarbeiten, indem man das tut, was in meinem ganzen politischen Leben für mich wichtig war. Man bekommt Mandate a) auf Zeit und b) nicht zugesichert, sondern man muss sie sich erkämpfen. Und wenn man diesen Kampf verliert, ist das in der Demokratie keine Schande, sondern normal. Es ist ganz normal und akzeptabel.
Himmelklar: Das heißt, es gilt quasi auch, das persönliche Selbstwertgefühl nicht von dem abhängig zu machen, was die Wähler sagen?
Schulz: Nein, immerhin haben über 10 Millionen Wählerinnen und Wähler mir ihre Stimme gegeben 2017. Ich finde, das ist etwas, worauf man stolz sein kann. Das Ergebnis war nicht toll, aber wenn 10 Millionen Menschen sagen: "Ich gebe dir meine Stimme", dann ist das schon mal was.