Kunst der Verhüllung: Was Christo kann, können Christen schon lange
Selten passt ein Bibelvers so gut wie dieses Jahr am 20. September in Paris. An diesem Montag der 25. Woche im Jahreskreis hören Besucher katholischer Eucharistiefeiern: "Es gibt nichts Verborgenes, das nicht offenbar wird" (Lk 8,17). In der französischen Hauptstadt wird der Vers in diesen Tagen besonders anschaulich. Dort ist erlebbar, was im Evangelium verkündet wird: Verhüllung und Offenbarung. Im Zentrum steht das französische Nationalsymbol – L’Arc de Triomphe. 25.000 Quadratmeter silberblauer Stoff und drei Kilometer rotes Seil verwandeln ihn in Christos Kunstwerk "L’Arc de Triomphe, Wrapped". Schon in den 1960er Jahren plante der 2020 verstorbene Künstler Christo Vladimiroff Javacheff den Pariser Triumphbogen zu verhüllen; 2020 sollte sein Traum wahr werden. Doch Corona machte ihm einen Strich durch die Rechnung, er konnte die Verwirklichung nicht mehr erleben. Nun, ein Jahr später, ist es soweit: Die Kunstwelt schaut nach Paris.
Was Feuilletonisten und Kunstfans verzückt, gehört zu den Grundlagen jüdisch-christlicher Performanz: Ob bei Adam und Eva (Röcke zum Bedecken der nackten Ureltern), in der Josefgeschichte (Tamar verkleidet sich als Hure, Josef als Ägypter) oder in der Stiftshütte (verdeckender Vorhang vorm Heiligtum) verhüllende Textilien spielen in heiligen Texten eine herausragende Rolle. Aus dem Vorhang der Stiftshütte wird der Vorhang des Jerusalemer Tempels, der als zentrales Ausstattungsmerkmal im Neuen Testament eine besondere Rolle spielt (Mt 27,51; Mk 15,38; Lk 23,45). Das letzte Buch der christlichen Bibel ist als "Apokalypse" bekannt. Sein Titel ist griechischen Ursprungs und bedeutet wörtlich "Entschleierung". Die Bezüge zu Christos Kunst sind unübersehbar.
Das Alltägliche neu inszenieren?
Christo selbst bezeichnete seine Arbeiten als sinnlos und irrational; Kunstkritiker hingegen sehen in seinen Verhüllungen den Versuch, durch aufsehenerregende Aktionen alltägliche Dinge neu ins Zentrum zu rücken und damit Wesentliches auszudrücken. In seiner Doktorarbeit zu Christos Verhüllung des Berliner Reichstages schreibt Dominik Meiering: "Das zeitweise Verhüllen öffnet den Blick für eine Neuentdeckung des Geheimnisvollen, das scheinbar bekannt ist, aber nicht erkannt werden kann."
Tritt in biblischen Texten Gott auf den Plan, bleibt die göttliche Erscheinung menschlichen Blicken entzogen. Vor Gottes Angesicht verhüllen sich die biblischen Figuren oder wenden ihren Blick ganz ab. Nie erscheint der Allgewaltige einfach so: Mal ist es die Feuer- oder Wolkensäule, die ihn verbirgt, ein andermal verschwindet er im Rauch am Sinai. Mose, Elija oder Jesaja schauen Gott stets verpackt: als Geheimnis ihres Glaubens. Auch das christliche Bekenntnis der göttlichen Menschwerdung beinhaltet die Unverfügbarkeit des Göttlichen.
Der katholische Glaubenssatz von der Realpräsenz Gottes im sichtbaren Brot und Wein der Eucharistie ist ein Beispiel für das Miteinander von Sehen und Nicht-Sehen in religiösen Zeichen. Thomas von Aquin meditiert die eucharistische Gegenwart Gottes in seinem Hymnus "Adoro te devote": "Jesus, den verborgen jetzt mein Auge sieht, stille mein Verlangen, das mich heiß durchglüht: lass die Schleier fallen einst in deinem Licht, dass ich selig schaue, Herr, dein Angesicht." Der Schweizer Theologe Hans-Urs von Balthasar bezeichnete die Offenbarungsgestalt Gottes in Jesus von Nazareth als "enthüllende Verhüllung".
Die in den biblischen Schriften beschriebene Unnahbarkeit Gottes spiegelt sich im kirchlichen Brauchtum wider, allen voran in Kirchenraum und Liturgie, aber auch die Volksfrömmigkeit weiß um die Wirkkraft des Verbergens.
Das religiöse Offenbarwerden erlebbar machen
Die Kreuzverhüllung während der Passionszeit und das Fallen dieser Hülle in der katholischen Karfreitagsliturgie veranschaulichen die Kraft von Entziehen und Erscheinen. In vielen Gemeinden werden am fünften Sonntag der Fastenzeit (Passionssonntag) die Kreuze im Kirchenraum verhüllt. Während der Karfreitagsliturgie wird der Gemeinde dann ein verhülltes Kreuz entgegengetragen und mit dem dreimal gesungenen Vers "Ecce lignum crucis" (Seht das Holz des Kreuzes) wieder enthüllt. In dieser Zeit ist es ebenfalls Brauch, Altäre in den Kirchen einzuklappen oder ganz zu verhüllen. Auch das Verbergen von Bildern und anderem Kirchenschmuck hat eine lange Tradition. Im römischen Messbuch steht dazu: "Der Brauch, die Kreuze und Bilder in den Kirchen zu verhüllen, soll beibehalten werden. In diesem Fall bleiben die Kreuze verhüllt bis zum Ende der Karfreitagsliturgie, die Bilder jedoch bis zum Beginn der Osternachtsfeier."
Die Verhüllung reich geschmückter Kirchenkunst in der österlichen Fasten- und Bußzeit verweist auf die Ganzheitlichkeit katholischer Liturgie. Oft werden dazu große Fastentücher verwendet. Wurde diese Verhüllung früher vor allem als Zeichen der schuldhaften Trennung von Gott und Mensch verstanden, stehen heute meist Besinnung und Schlichtheit im Vordergrund. Meiering schreibt dazu: "Das zeitweise Enthüllen der Andachts-, Kult- und Gnadenbilder macht die geglaubte 'Revelatio', die Offenbarung des Heiligen, erlebbar".
Verhüllung als Zeichen der Ehrfurcht
Auch während des Kirchenjahres kennt die katholische Tradition verschiedene Formen und Bräuche der Verhüllung. Als Faustregel gilt: Je kostbarer das Verhüllte, umso aufwendiger und besonderer die Art der Verhüllung. Vor allem um das Allerheiligste – also das eucharistische Brot, die gewandelten Hostien – gibt es eine Vielzahl von Verhüllungen, die den besonderen Charakter des darin Verhüllten veranschaulichen sollen. Verhüllungsvelen, mit denen bei Prozessionen die "vasa sacra" (heilige Gefäße) wie Monstranzen, Ziborien oder ähnliches getragen werden, werden aus Gründen der Ehrfurcht (Berührung mit dem Heiligen) verwendet – zugleich werten sie das darunter verborgene symbolisch auf und veranschaulichen seine Bedeutung.
Bei Tabernakeln lässt sich ähnliches beobachten. In ihnen wird in katholischen Kirchen das eucharistische Brot aufbewahrt. Jeder Tabernakel ist mit einem Stoffvorhang versehen; auch hier dient die Verhüllung dem dahinterliegenden Heiligen und unterstreicht dessen Bedeutung. Eine ähnliche Funktion haben die Bilderwände (Ikonostasen) der orthodoxen Kirchen. Sie versperren den Blick auf die dahinter stattfindenden heiligen Handlungen und heben sie gerade dadurch hervor. Auch hier wird durch Verhüllung Offenbarung dargestellt – Unbegreifliches inszeniert.
Heilige Knöchelchen (Reliquien) sind ebenfalls oft den Blicken der Betrachtenden entzogen. Meist umgibt sie ein aufwendig gestaltetes Behältnis. Ist es ein "sprechendes Reliquiar", wird durch dessen Form (Arm, Kopf, Fuß und so weiter) das enthaltene Knochenstück veranschaulicht. Gleichzeitig wird die Reliquie in einem solchen Behältnis ganz oder teilweise verborgen. Ist die Reliquie sichtbar, ist sie meist in kostbare Materialien eingewickelt, die ihren Stellenwert anzeigen. Eine andere Möglichkeit, Reliquien verhüllt zu präsentieren, sind Reliquienschreine wie der Dreikönigsschrein im Kölner Dom, die großen Schreine des Aachener Doms oder der Liborius-Schrein in Paderborn. Anders als die Schreine in Aachen und Köln ist der Liboriusschrein kein dauerhafter Aufbewahrungsort von Reliquien, sondern ein (undurchsichtiges) Zeigegefäß, das nur zum Paderborner Hochfest Libori die Reliquien des Stadt- und Bistumsheiligen enthält – und verbirgt.
Die Funktion kostbarer Schreine geht über die bloße Aufbewahrung und Zur-Schau-Stellung hinaus: Sie sind kunstvolle Hülle(n) für bedeutsame Inhalte. An der (Bau-)Geschichte des Kölner Doms zeigt sich, dass bisweilen ein Schrein nicht genügte: Gelegentlich wird der ganze Kölner Dom als Schrein für den Schrein der Heiligen Dreikönige bezeichnet. Das Matrjoschkahafte des Kölner Doms hat 1980 auch den Verhüllungskünstler Christo inspiriert. Damals präsentierte er zum 100-jährigen Jubiläum der Domvollendung eine Dom-Verpackung. Unter "Mein Kölner Dom. Wrapped" trat er 1992 erneut mit einer Domverhüllung in die Öffentlichkeit. Verwirklicht wurden die Projekte (bisher) aber nicht.
Marienfiguren im "Gnadenröckl" und verhüllte Bräute
Eine weitere, sehr beliebte Form der Verhüllung betrifft die Gottesmutter. In vielen Diözesen finden sich an größeren und kleineren Wallfahrtsorten sogenannte Gnadenbilder. Handelt es sich um Statuen, gibt es den Brauch, die Marienfiguren in unterschiedlichste Gewänder zu hüllen. Das berühmte Gnadenbild von Altötting besitzt rund 20 dieser Gewänder. Im bayerischen Wallfahrtsort werden sie "Gnadenröckl" genannt. Je nach Zeit im Kirchenjahr wird die schwarze Statue in ein anderes Gewand gehüllt. Nur an einem Tag im Jahr trägt die Muttergottes von Altötting kein Gewand: Am Karfreitag wird das Gnadenbild als Zeichen der Trauer mit einem schwarzen Schleier verhüllt.
"In vielen Kulturen werden Situationen des Übergangs mit Stoffen angedeutet – ändert sich die soziale Rolle, wird das oft durch Zeichen wie Verhüllung (oder Enthüllung) angezeigt", erklärt Christiane Cantauw. Sie leitet die Kommission Alltagskulturforschung in Münster und forscht unter anderem zu Ritualen im Alltag. Bei Taufe, Weihe, Ordenseintritt, Tod oder Hochzeit – überall wird eine Änderung des Status durch ein Stück Stoff kenntlich gemacht. "Die Verhüllung der Braut mit einem Schleier ist ein sehr eindrücklicher Brauch", sagt Cantauw. Durch das Verhüllen der Braut werde traditionell ihr Übergang aus dem Elternhaus in das Haus ihres Mannes versinnbildlicht. "In Deutschland kamen Frauen mit der Hochzeit unter die Haube – sie trugen ab dann auch im Alltag eine Kopfbedeckung und verhüllten ihre Haare."
Auch das Anlegen des Ordensschleiers komme daher, erzählt Cantauw. In diesen "rites de passage" spiele Trennung eine wichtige Rolle. "Auch Leichentücher, oder Bahrtücher haben eine solche Funktion. Es geht nicht um das Ausblenden des Todes, sondern um eine Veranschaulichung der Trennung der Welt der Toten von derjenigen der Lebenden." Bis vor einiger Zeit gab es in Klöstern einen bemerkenswerten Brauch: Band sich ein junger Ordensmensch lebenslang an eine Gemeinschaft und legte die feierliche Profess ab, wurde er mit einem Bahrtuch bedeckt. Für die Welt war er nun gestorben: Auch hier wird eine bedeutende Statusänderung mittels der Verhüllung verdeutlicht.
Geht es bei Verhüllungen vor allem darum Glaubensinhalte sichtbar zu machen, Ehrfurcht auszudrücken oder Standes- und Statusunterschiede zu markieren, kennt die Kirchengeschichte auch das "sittliche" Verhüllen von Nacktheit. Knapp zwanzig Jahre nachdem Michelangelo 1541 "Das Jüngste Gericht" in der Sixtinischen Kapelle mit über 400 nackten Heiligendarstellungen vollendet hatte, ließ der Papst Höschen und Stoffe über die Nackten malen. Den Auftrag bekam Daniele da Volterra; für seine Arbeit erhielt er in der Kunstgeschichte den Spitznamen "Braghettone" (Hosenmaler). Wenige Jahre später regierte Clemens VIII. in Rom und ließ Kreuzesdarstellungen in der Stadt züchtig bekleiden und – für seinen Geschmack zu freizügige – Darstellungen der Maria von Magdala keusch einhüllen.
Ein besonderer Leckerbissen bleibt die schwäbische Art des Verhüllens: Dem Kirchengebot des Fastens und der Abstinenz verpflichtet, verbergen Schwaben Fleisch in Teig. Über die Landesgrenzen bekannt sind diese Leckerbissen als Maultauschen – oder "Herrgotts Bescheißerle". Auch an diesem Beispiel wird deutlich: Was Christo kann, können Christen schon lange.