Pastoraltheologin: An gendergerechter Sprache kommt niemand vorbei
Seelsorger:innen, Redepult statt Rednerpult, Christinnen und Christen: Mit einer Handreichung mit Empfehlungen zur geschlechtersensiblen Sprache hat das Bistum Hildesheim viel Aufmerksamkeit erregt. Wie weit ist die Kirche in Sachen gendergerechter Sprache – und was kann und sollte sie noch tun? Im Interview erklärt die Regensburger Pastoraltheologin Ute Leimgruber die Bedeutung des Themas und welchen Niederschlag es bereits im Glaubensalltag gefunden hat.
Frage: Die Handreichung aus Hildesheim zu geschlechtersensibler Sprache hat für Aufsehen gesorgt. Wo steht die Kirche in diesem Bereich?
Leimgruber: Sie steht nicht, sondern wir bewegen uns. Sprache ist nicht nur ein Spiegel unseres Alltags, sondern sie ist auch ein Spiegel unserer Wertvorstellungen und lenkt unsere Wahrnehmung. Eine Kirche, die sich damit beschäftigt und reflektiert, welche Wertvorstellungen, welchen Alltag und welche Wahrnehmung sie sprachlich widerspiegelt, beschäftigt sich auch mit der Frage, ob sie sich gendersensibel, gendergerecht und insgesamt gerecht ausdrückt.
Sprache steht nie still, sondern ist immer im Fluss. Der gesellschaftliche und der sprachliche Wandel beeinflussen sich gegenseitig und in diesem Wandel steht auch die Kirche. Geschlechtergerechte Sprache ist mittlerweile sowohl in der katholischen wie auch in der evangelischen Kirche ein ganz wichtiger Baustein, um sich in diesem Prozess zu positionieren.
Frage: Ist die evangelische Kirche da nicht viel weiter als wir?
Leimgruber: (lacht) Was heißt schon weiter? Es gibt in der katholischen wie der evangelischen Kirche mehrere Handreichungen, die sich für eine geschlechtergerechte bzw. geschlechtersensible Sprache einsetzen. Das Hildesheimer Papier hat zwar am meisten für Aufmerksamkeit gesorgt, aber auch etwa die Diözesen Paderborn, Bamberg und München-Freising oder das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) haben sich damit beschäftigt, das ZdK plädiert beispielsweise für die Nutzung des Asterisken, also des Gendersterns. Es ist also nicht so, als dass in der katholischen Kirche niemand dafür wäre. Es ist auch hier eine breite Mehrheit dafür, nur sind die Gegnerinnen und Gegner lauter.
In der evangelischen Kirche gibt es unter anderem einen Ratsbeschluss der EKD aus dem Jahr 2020 und einen Leitfaden. Ansätze gibt es also aus beiden Kirchen, ich würde mich nicht darauf festlegen, wer da weiter ist.
Frage: Halten Sie die Diskussion um gendergerechte Sprache in der Kirche für sinnvoll und wichtig?
Leimgruber: Ich halte es für ganz wichtig, dass sich Kirche um eine geschlechtergerechte Sprache bemüht. Das ist erstmal ganz basal eine Frage von Höflichkeit und Respekt. Wer Menschen anspricht, sollte sie so ansprechen wie sie sind und sich angesprochen fühlen. Weiterhin geht es um Präzision und Gerechtigkeit, denn die angesprochenen Geschlechter sollen alle gleichermaßen sichtbar werden. Es gibt genug wissenschaftliche Studien, die belegen, dass der theoretische Anspruch des generischen Maskulinums, andere Geschlechter "mitzumeinen", nicht funktioniert. Vielmehr ist erwiesen, dass, wo ausschließlich Männer angesprochen werden, auch ausschließlich an Männer gedacht wird.
Frage: Das Christentum propagiert schon in der Bibel: Vor Gott werden alle Unterschiede aufgehoben. "Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus." (Gal 3,28) Ist diese Differenzierung da nicht ein Schritt in die falsche Richtung? Werden da nicht Unterschiede aufgemacht, wo allein schon durch unser Gottesbild keine sein sollten?
Leimgruber: Wir müssen uns irgendwie ausdrücken – und wir können das nicht neutral tun. Sprache ist nie neutral. Der Anspruch des generischen Maskulinums ist nur theoretisch, linguistisch ist das ausschließend. Die Intention bedeutet keine Funktionalität. Wenn ich niemanden ausschließen will, aber ausschließende Sprache verwende, bringt mir auch eine gute Intention nichts.
Frage: Formen aber, die unter anderem im Hildesheimer Papier auftauchen, wie "Kolleg_innen" oder "Mitarbeiter*innen", haben die explizite Intention, Geschlechter außerhalb der männlich-weiblich-Dualität zu inkludieren. Geschlechter, die es aus Sicht des kirchlichen Lehramts nicht gibt.
Leimgruber: Wenn die Kirche das Vorhandensein von Geschlechtsidentitäten jenseits von männlich und weiblich negiert, ignoriert sie eine wissenschaftliche Tatsache, denn eine biologisch eindeutige Zweigeschlechtlichkeit gibt es nicht. Es ist eine andere Ebene, wie wir theologisch mit den Geschlechtern umgehen. Die Vorstellung, es gebe ausschließlich zwei Geschlechter – Mann und Frau – ist in der Kirche die Grundlage für viele, auch theologische Normierungen. Beispielsweise wird eine binäre Komplementarität von Mann und Frau als ein Spiegel des Bundes Gottes mit den Menschen gelesen. Wenn wir aber unsere ganz konkrete Alltagssprache anschauen, und das tut ja das Hildesheimer Papier, sollten wir auf der Basis der Naturwissenschaften davon ausgehen, dass es nicht nur binäre Geschlechtsidentitäten gibt. Und da ist es dann wieder eine Frage von Respekt, Höflichkeit, Präzision und Gerechtigkeit, diese auch probat anzusprechen und sichtbar zu machen. Die theologischen Konsequenzen müssen gesondert diskutiert werden, aber es geht erstmal um eine Ansprache.
Frage: Aber wenn die Kirche sich diese Ansprache aneignet, setzt sie mit der Bundestheologie dann nicht einen ganz entscheidenden Aspekt der Lehre aufs Spiel, durch den das gesamte theologische Theoriegebäude in sich zusammenfallen kann?
Leimgruber: Grundsätzlich stand die Kirche schon immer im Austausch mit nicht-theologischen Wissenschaften: Vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild etwa wurde ein Wandel vollzogen – und an der Botschaft des Christentums hat sich nichts geändert. Es ist als Theolog*innen doch gerade unser Auftrag, im Austausch mit nicht-theologischen Wissenschaften unseren Glauben vernünftig und verantwortet begründen zu können. Als Kirche müssen wir alle Menschen in den Blick nehmen und uns in einer Sprache ausdrücken, die niemanden verschweigt oder marginalisiert. Gleichzeitig müssen wir uns die Anfrage zu Herzen nehmen, was wissenschaftliche Erkenntnisse für unsere Theologie des Menschen und der Mensch-Gott-Beziehung bedeuten. Da würde die Theologie nicht wie ein Kartenhaus zusammenbrechen, sondern dieser Prozess macht die Theologie seit Jahrtausenden aus: kreativ und reflexiv auf die Welt zu reagieren und sich weiterzuentwickeln. Da können wir nur gewinnen.
Frage: Manche in der Kirche argumentieren, mit gendersensibler Sprache würde man traditionelle Familien- und Gesellschaftsstrukturen auf Spiel setzen und durch eine linke Ideologie austauschen, die all das zerstören will. Wie sehen Sie das?
Leimgruber: Die Intention, alle Menschen in den Blick zu nehmen und niemanden zu marginalisieren, ist nicht gleichzusetzen ist mit einer Intention, die Werte wie Ehe, Familie oder dergleichen zerstört. Das ist ein Vorwurf, der schlicht nicht zutrifft.
„Ich bin der festen Überzeugung, dass unser Glaube vernünftig formulierbar ist .“
Frage: Die gesamte katholische Lehre fußt auf dem aus dem Judentum übernommenen Fortpflanzungsgedanken. Wenn man das aufbricht oder erweitert, wohin kann sich die Theologie denn entwickeln?
Leimgruber: Ich bin der festen Überzeugung, dass unser Glaube vernünftig formulierbar ist und wir gleichzeitig sagen können: Wir erfassen und drücken sexuelle Orientierungen und geschlechtliche Vielfalt aus. Das ist auch unser Auftrag. Wenn es für die theologischen Folgen eine einfache Lösung gäbe, hätten wir sie schon. Vielmehr ist es aber unsere Aufgabe in der Theologie, die ja die dauerhafte Auseinandersetzung der Welt mit Gott ist, dass wir darüber nachdenken und ernsthaft diskutieren und uns nicht von vornherein entweder die Wissenschaftlichkeit oder das Katholischsein absprechen.
Frage: Gott wird noch oft mit dem männlichen Geschlecht assoziiert, da ist vom "Herrn" oder "Vater" die Rede. Was bedeutet eine Emanzipation Gottes von dieser Geschlechtlichkeit für unser Gottesbild?
Leimgruber: Im Grunde kann es nur bedeuten, dass wir die Größe und Unverfügbarkeit Gottes neu wertschätzen lernen. Die ganzen Metaphern, die wir für Gott verwenden, sind Gott immer unähnlicher, als sie ihm ähnlich sind. Es ist gut, dieser Größe Gottes auch sprachlich mehr Raum zu geben.
Frage: Ist diese theologische Weiterentwicklung nicht ein großes, umfassendes Projekt, das angesichts der fortschreitenden Polarisierung in der Kirche schwierig, wenn nicht unmöglich ist?
Leimgruber: Im Gegenteil. Es bedeutet eher, dass Geschlechtergerechtigkeit nicht mehr nur in der Nische des Feminismus stattfindet, sondern alle theologischen Disziplinen betrifft – an diesem Thema kommen wir nicht mehr vorbei. So ist zum Beispiel in der aktuellen Edition der Einheitsübersetzung völlig klar, dass in den Paulusbriefen von "Schwestern und Brüdern" gesprochen wird – das hat noch vor 30 Jahren heftige Streitereien ausgelöst. Diese Überlegungen und Reflexionen sind also nicht neu, sondern das Thema ist nach und nach in den Blick gekommen und hat sich theologisch niedergeschlagen. Ähnlich ist es bei der Apostelin Junia: Die wurde jahrhundertelang als männlicher Junias umetikettiert, heute ist das in der Einheitsübersetzung revidiert. Es ist mittlerweile ein Querschnittsthema – darüber bin ich froh. Ich hielte es deshalb für falsch, aufgrund der Polarisierungen in der Gesellschaft dieses Thema nicht zu behandeln. Das ist kein sinnvoller Weg.