Brennpunkt der englischen Geschichte

Ein architektonisches Juwel: 900 Jahre Kirche von Tewkesbury

Veröffentlicht am 23.10.2021 um 12:45 Uhr – Lesedauer: 

Tewkesbury ‐ Sie gehört zu Englands größten Pfarrkirchen. Jede zweite Kathedrale im Land ist kleiner als die genau 900 Jahre alte Tewkesbury Abbey. Und: Hier wurde eine der wichtigsten Schlachten der englischen Geschichte geschlagen.

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Viele der Roten hatten sich vom blutigen Schlachtfeld in die Kirche gerettet. Dachten sie zumindest. Doch die Weißen stoben ihnen nach, mitten ins Kirchenschiff, und richteten ein neuerliches Blutbad an. Vom Hochaltar her zog Abt John Streynsham den drei royalen Brüdern entgegen, um dem Morden Einhalt zu gebieten, in den erhobenen Händen das allerheiligste Altarssakrament. Der 4. Mai 1471 war der dramatischste Tag in der dramatischen Geschichte von Tewkesbury.

Vor gut 550 Jahren fand hier, am Zusammenfluss von Severn und Avon, eine zentrale Schlacht der "Rosenkriege" zwischen den Häusern Lancaster (Rote Rose) und York (Weiße Rose) statt. Im Chor der Kirche kann man den Ausgang bis heute ablesen: Hoch oben im spätgotischen Gewölbe goldene Sonnen, auch ein Symbol des Hauses York. Unten, auf dem Boden, die Grabplatte für Edward, Prince of Wales, den getöteten jungen Thronfolger des Hauses Lancaster.

Die Rosenkriege, mit Unterbrechungen zwischen 1455 und 1485 quasi ein dreißigjähriger Krieg, wurde geführt zwischen den zwei Erblinien des Hauses Plantagenet, das als Englands Könige im 12. Jahrhundert unter Eleonore von Aquitanien und König Richard Löwenherz über ganz Westeuropa von Schottland bis zu den Pyrenäen herrschte. Die Schlacht von Tewkesbury, der Tod von Prinz Edward und die anschließende Hinrichtung König Heinrichs VI. im Tower von London markierten das Aussterben der männlichen Linie von Lancaster. In weiblicher Linie traten die Tudors an ihre Stelle.

Zeiten blieben turbulent

Einer der Sieger von Tewkesbury, der spätere König Richard III., starb selbst zwölf Jahre später (als letzter englischer König in der Schlacht) – nun York gegen Tudor – ,in Bosworth. Seine Leiche wurde erst vor wenigen Jahren bei archäologischen Grabungen unter einem Parkplatz wiederentdeckt und neu beigesetzt.

Die Zeiten blieben auch in den folgenden Jahrzehnten turbulent: für die englische Königsherrschaft, aber auch für die Ordensgemeinschaften und Klöster im Land. Nur wenige Jahrzehnte blieben der wohlhabenden Abtei Tewkesbury noch – dann traf sie wie alle Klöster Englands der Handstreich des Tudor-Königs Heinrich VIII.

Bild: ©KNA/Alexander Brüggemann

Das Mittelschiff der Kirche Saint Mary The Virgin.

Weil sich der Papst weigerte, Heinrichs erste Ehe mit Katharina von Aragon aufzulösen, sagte sich der König Englands – noch kurz zuvor als "Verteidiger des Glaubens" (Defensor Fidei) geadelt, vom Katholizismus los und erklärte sich selbst zum Oberhaupt einer neuen, "anglikanischen" Staatskirche. Bis 1540 wurden sämtliche rund 800 Klöster im Land aufgelöst, die meisten zerstört, etwa 10.000 Mönche, Nonnen und Kanoniker vertrieben. Alle Güter und Gelder fielen an die Krone: eine gigantische Vermögensumschichtung.

47 Bögen Pergament

Allein das Inventar von Tewkesbury füllt 47 Bögen Pergament. Mehr als ein Zentner Altargeschirr aus Silber ging von hier an die Schatzkasse des Königs nach London. Die Beamten der Krone ordneten an, alle Mönchsgebäude, die kunstvolle Marienkapelle im Osten und den 30 mal 30 Meter großen Kreuzgang im Süden abzureißen. Am Ende wurde auch die riesige, Maria geweihte Klosterkirche als "überflüssig" deklariert. Doch da stellten sich die Bürger auf die Hinterbeine. Sie kauften das Gotteshaus vom königlichen Schatzamt, als ihre Pfarrkirche. Der Preis: 453 Pfund, der Metall-Schätzwert für Bleidächer und Glocken.

So kommt es, dass der 10.000-Einwohner-Ort, in Randlage unweit der Grenze zu Wales, heute statt einer Ruine am Ortsrand eine der größten Pfarrkirchen Englands besitzt. Fast die Hälfte der Kathedralen des Landes ist kleiner als Tewkesbury Abbey mit ihren 95 Metern Länge und 17,70 Metern Gewölbehöhe. Die geretteten Teile sind ein Prunkstück anglonormannischen Kirchenbaus. Tatsächlich geht das Kloster auf die ganz frühe Zeit der normannischen Eroberung Englands zurück.

Bild: ©KNA/Alexander Brüggemann

Bis heute ist die Kirche reich ausgestattet.

König Wilhelm der Eroberer, der Sieger von Hastings 1066, übergab Tewkesbury 1087 seinem Verwandten Sir Robert Fitzhamon, Lord of Gloucester. Robert gründete 1092 das untergegangene Benediktinerkloster am Ort neu und ließ ab 1102 die riesige Abteikirche mit ihren 14 mächtigen Säulen bauen. Das romanische Riesenportal im Westen und der 45 Meter hohe quadratische Vierungsturm sind einzigartig. Vor genau 900 Jahren, am 23. Oktober 1121, wurde die Kirche vom Bischof von Gloucester in Anwesenheit vierer weiterer Bischöfe geweiht.

Prächtige Grabmäler

Über die Jahrhunderte ließen sich viele Barone und Kreuzritter der Region prächtige Grabmäler und Kapellen in der Abteikirche errichten. Außer der Westminster Abbey in London, so heißt es, gebe es in England wohl keine Kirche mit so vielen illustren Persönlichkeiten unter ihrem Dach. Der Dramatiker Francis Beaumont (1584-1616), ein Zeitgenosse Shakespeares, schrieb über Tewkesbury: "Das ist ein Acker, fürwahr gesät mit dem reichsten und königlichsten Samen."

Unter den Prachtgräbern ist auch das des letzten Abts von Tewkesbury, John Wakeman (um 1488-1549). Auf Erden hatte er ein mildes Schicksal: Weil er die Abtei friedlich an den König übergab, setzte Heinrich VIII. ihm eine sehr ordentliche Pension aus und machte ihn zum ersten anglikanischen Bischof von Gloucester. Wakemans Kenotaph verweist dennoch über das Irdische hinaus: Sein knochiger Leichnam wird von Wurm, Maus, Frosch und Schnecke zernagt.

Ein ausgedehnter Rundgang durch die architektonischen Schätze der Basilika ist Pflicht, ebenso wie ein Spaziergang auf die parkähnliche Südseite der Kirche. Von hier, der Schokoladenseite, wo einst ein Kreuzgang von tausend Quadratmetern stand, sieht man erst richtig, welch harmonische Pracht die Bürger von Tewkesbury damals für 453 Pfund sich und der Nachwelt erhalten haben – zumindest zum Teil.

Von Alexander Brüggemann (KNA)