Heiligenchor und Totengedenken: Zwei Feste zwischen Himmel und Erde
Allerheiligen ist ein Datum, in dem sich die kirchliche Gedenkkultur zusammenballt. Das Fest gilt allen Märtyrern und Heiligen auf einmal. Schon im 4. Jahrhundert ist in der Ostkirche die Zahl der Vorbilder im Glauben offensichtlich so groß geworden, dass die Tage im kirchlichen Kalender nicht mehr ausreichten, ihrer einzeln zu gedenken. Das Fest Allerheiligen ruft also, um es mit einer musikalischen Metapher zu sagen, nicht besondere Solisten, sondern den polyphonen Chor der Märtyrer und Heiligen auf. Die Kirche geht ja davon aus, dass den Menschen auf der anderen Seite des Todes nicht das Nichts, sondern die wahre Fülle des Lebens erwartet. Das Beste kommt erst noch – und die Heiligen haben schon jetzt an dem Anteil, wofür wir keine Begriffe, sondern allenfalls Ahnungen und Bilder haben.
Seit dem Mittelalter wird Allerheiligen in der lateinischen Westkirche am 1. November begangen. Es setzt so zur herbstlichen Stimmung einen österlichen Kontrapunkt. Inmitten der vergilbten Blätter und entlaubten Bäume, die uns an die Vergänglichkeit des Lebens erinnern, reißt Allerheiligen einen eschatologischen Horizont auf, der die Immanenz von Welt und Geschichte übersteigt.
Die Zahl der Heilig- und Seligsprechungen ist zuletzt unter dem Pontifikat von Johannes Paul II. (1978-2005) exponentiell gestiegen. Der polnische Papst wollte durch eine Vielzahl von Kanonisierungen den Ortskirchen in den unterschiedlichen Regionen der Weltkirche plastische Vorbilder des Glaubens vor Augen stellen. Er betrachtete die Heiligsprechung als Instrument kirchlicher Gedächtnispolitik und als Gegengift gegen die anhaltende Säkularisierung. Man mag das kritisieren und überhaupt ein Fragezeichen hinter die Praxis der Heiligsprechungen setzen. Begeht die katholische Kirche nicht eine Kompetenzüberschreitung, wenn sie Menschen kanonisiert und das eschatologische Urteil Gottes kühn vorwegnimmt?
Vielzahl der Heiligen zeigt Pluralität der christlichen Lebens
Umgekehrt, und das haben gerade auch Protestanten wie Walter Nigg gewürdigt, zeigen die Biographien der Heiligen die faktische Pluralität von Berufungen und Nachfolgeformen. In unterschiedlichen geschichtlichen Kontexten haben ganz unterschiedliche Menschen dem Evangelium glaubwürdig Gesicht und Stimme verliehen. Gerade in den pluralen Lebenswelten der Moderne kann diese Vielfalt an Exempeln orientierende Kraft entfalten und zeigen, dass das Wort Gottes beeindruckende Kommentare im Lebenszeugnis von Menschen gefunden hat.
Das II. Vatikanische Konzil hat in seiner Lehre über die Kirche von der "allgemeinen Berufung zur Heiligkeit" gesprochen (vgl. Lumen gentium, Kap. 5). Das klingt nach frommer Diktion und ist in der Rezeption des Konzils auch weithin unbeachtet geblieben, aber darin steckt nichts weniger als eine Demokratisierung des Heiligkeitsbegriffs. Alle Gläubigen sind eingeladen, ihren Lebensstil am Evangelium auszurichten, dem Gebot der Gottes- und Nächstenliebe zu folgen und eine Kultur der Vergebung zu üben, die den lästigen Nachbarn eben nicht auf seine Fehler fixiert.
Der kaum ausgeschöpfte Reformimpuls des Konzils – das "gemeinsame Priestertum aller Gläubigen" – meint in diesem Zusammenhang primär nicht eine Erweiterung der Mitspracherechte von Laien gegenüber Klerikern, wie in kirchlichen Reformdiskursen häufig zu hören ist. Vielmehr geht es darum, dass jedem Christen, jeder Christin durch Taufe und Firmung ein unverlierbares Charisma mitgegeben ist, dem Evangelium ein ansprechendes und auch unverwechselbares Gesicht zu geben. Das ist in den ausdifferenzierten Berufs- und komplexer werdenden Lebenswelten heute allemal wichtig, wenn die Prägekraft des Glaubens nicht weiter erodieren soll. Heiligkeit ist demnach ein Appell an alle und eben kein Elite-Programm für Virtuosen der Frömmigkeit!
Der These, dass der Katholizismus durch die Heiligenverehrung den Polytheismus der Antike beerbt habe, ist in diesem Zusammenhang immer wieder zu hören. Sie ist richtig und falsch zugleich. Richtig ist, dass den Heiligen in der Volksfrömmigkeit unterschiedliche Ressorts zugesprochen werden, für die sie zuständig sind. Zwischen Gott, dessen Heiligkeit und Transzendenz stark empfunden wurde, und den gewöhnlichen Menschen wurde mit den Heiligen eine Vermittlungsinstanz eingeschoben. Der heilige Blasius ist für Halskrankheiten zuständig, die heilige Katharina ist die Patronin der Philosophen und Theologen, der heilige Antonius wird immer dann angefleht, wenn etwas verloren gegangen war. Verfehlt aber ist es, die Heiligen zu Göttern oder Halbgöttern zu stilisieren. Es handelt sich um einfache Menschen, an deren Leben bei allen Fehlern und Schwächen etwas von der Heiligkeit Gottes selbst aufleuchtet. Um die Heiligenverehrung nicht als Menschenvergötzung misszuverstehen, gilt es, eine theologische Differenz in Erinnerung zu rufen, die bereits das II. Konzil von Nicaea im Jahr 787 eingeführt hat: Gott allein wird angebetet (adoratio), die Heiligen werden lediglich verehrt (veneratio). Auch wird die Einzigkeit der Heilsmittlerschaft Jesu Christi nicht angetastet. Die Heiligen sind Vermittlungen zum Mittler, nicht dieser selbst!
In der lateinischen Westkirche ist im Jahr 998 das Fest Allerseelen dazugekommen. Abt Odilo von Cluny hat es zunächst für die Benediktinerklöster eingeführt, dann hat es sich nach und nach in der ganzen Kirche verbreitet. Allerseelen ist ein Tag in commemoratione omnium fidelium defunctorum und rückt das Gedenken aller verstorbenen Gläubigen ins Zentrum. Das Fest, das am 2. November begangen wird, gibt dem Schmerz und der Trauer um den Verlust uns nahestehender Menschen Raum. Es steht damit quer zur gesellschaftlichen Tabuisierung von Trauer und Tod. Zugleich setzt es eine Zäsur des dankbaren Gedenkens und erinnert an diejenigen, die unser Leben geprägt haben, jetzt aber nicht mehr unter uns sind. Damit macht Allerseelen bewusst, dass auch unser eigenes Leben unter dem Neigungswinkel der Sterblichkeit steht. Kirche ist Erinnerungsgemeinschaft, welche die Namen ihrer Mitglieder nicht vergisst, sondern im Gebet vor das lebensstiftende Gedächtnis Gottes trägt. Das wird auch in rituellen Praktiken deutlich. Man besucht die Gräber, segnet sie und entzündet ein Licht, das die österliche Hoffnung sinnenfällig werden lässt.
Gewiss, die Entstehung des Festes Allerseelen ist historisch mit der Lehre vom Fegfeuer unlöslich verknüpft und theologisch belastet. In der Topographie des Jenseits gibt es nach Lehre der scholastischen Theologie neben Himmel und Hölle das Purgatorium – einen Ort, in dem die armen Seelen einen postmortalen Prozess der Reinigung durchlaufen. Durch gute Taten und vermehrte Gebete im Diesseits hoffte man das Leiden der Verstorbenen im Jenseits verkürzen zu können. Zu den bekannten Hypotheken der Kirchengeschichte zählt es, dass einzelne Bischöfe aus dem Fegfeuerglauben Kapital geschlagen haben. Lässt man den fiskalischen Missbrauch und die Quantifizierung der Frömmigkeitspraktiken beiseite und schält den theologischen Sinngehalt des Festes Allerseelen heraus, wird man sagen können: Das Gebet für die Verstorbenen zeigt die anamnetische Solidarität der Lebenden mit den Toten. Das Purgatorium aber ist keine postmortale Strafanstalt, sondern der therapeutische Prozess, in dem eine vollendungsbedürftige Biographie in den Status der Vollendung geführt wird.
Wechselspiel zwischen irdischer und himmlischer Kirche
Die Feste Allerheiligen und Allerseelen machen deutlich, dass die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen – als Communio sanctorum – Lebende und Verstorbene umgreift. Es gibt in der Liturgie Spielformen zwischen irdischer und himmlischer Kirche, Praktiken des wechselseitigen Eintretens füreinander. Die Gläubigen, die als Pilger in dieser Weltzeit unterwegs sind, rufen die Namen der Heiligen um Schutz und Beistand an, schon in den ersten Jahrhunderten hat man die Märtyrer als "Freunde Gottes" verehrt und sie als Fürsprecher angesehen; umgekehrt bleiben die Gläubigen mit denen, die ihnen im Glauben vorangegangen sind, im Gebet verbunden und empfehlen ihre Namen der memoria Dei an.
"Aus Totenköpfen sollen Antlitze werden!", heißt es in Peter Handkes Stück Immer noch Sturm, in dem es um imaginäre Gespräche mit seinen Vorfahren geht. Dieser Sehnsucht, dass die Lebensgeschichten der Verstorbenen nicht im Ozean des Nichts versinken, sondern verwandelt eingehen mögen in die Fülle des Lebens, gibt die christliche Memorialkultur Raum. Die Kreuze auf den Friedhöfen sind daher keine lebensfeindlichen Symbole, sie erinnern an den österlichen Transitus vom Tod zum Leben, das keinen Tod mehr kennt. In jedem Gottesdienst, der in Wort und Sakrament an Passion und Auferstehung Jesu Christi erinnert, wird auch der Verstorbenen gedacht. Der anamnetische Kult steht daher, wie Johann Baptist Metz treffend notiert hat, gegen eine Kultur der Amnesie, die in den Fluten von Information selbst immer vergesslicher wird und das dankbare Gedenken verlernt, das uns mit denen verbindet, die uns vorangegangen sind.