Jesuit Retschke: Macht und Ambitionen trüben synodale Prozesse
Dass der Gründer des Jesuitenordens, Ignatius von Loyola (1491-1556) von der Unterscheidung der Geister schrieb, ist hunderte Jahre her. Doch angesichts mehrerer synodaler Prozesse wie dem Synodalen Weg der Kirche in Deutschland sowie dem von Papst Franziskus ausgerufenen weltweiten synodalen Prozess erlebt das Konzept eine Renaissance im kollektiven Bewusstsein des Kirchenvolks. Denn es wird oft gefordert, die Geister zu unterscheiden. Am Ende eines echten Dialogs "sind wir nicht mehr dieselben wie vorher, wir haben uns verändert", sagte etwa Papst Franziskus. Im Interview erklärt der Jesuit Fabian Retschke, was das genau heißt und wie das Konzept bei synodalen Prozessen umgesetzt werden kann.
Frage: Herr Retschke, wie lässt sich das Prinzip der Unterscheidung der Geister zusammenfassen?
Retschke: Die Unterscheidung der Geister ist zuallererst eine Methode, deren Tradition unter anderem auf Ignatius von Loyola zurückgeht – es gab sie aber schon vorher. Ignatius hatte in seinem Leben Momente, in denen er auf sich allein zurückgeworfen war. Da hat er in seinem Inneren bestimmte Emotionen und Gedanken gespürt. Bei manchen von ihnen empfand er Trost, bei anderen Trostlosigkeit, damit ging jeweils eine gewisse Nähe Gottes und der damit verbundene Frieden einher – oder eben dessen Fehlen. Das eine vom anderen zu unterscheiden ist ein Prozess der Selbsterforschung, nicht nur der Analyse wegen, sondern um dem Willen Gottes auf die Spur zu kommen. Der Sinn ist natürlich, sich am Ende für das zu entscheiden, was näher zum Willen Gottes führt.
Frage: Wie wird das bei Ihnen im Orden angewandt?
Retschke: Diese Unterscheidung passiert einerseits individuell. Jeder Jesuit ist angehalten, sie in seinem geistlichen Leben und in den Erfahrungen des Alltags zu praktizieren. Wir machen das aber auch in Gemeinschaft, um zusammen tragfähige Entscheidungen zu ermöglichen. Es gibt da verschiedene Schritte: Der erste wäre, sich auf gemeinsame Ziele zu verständigen. Von diesen Zielen wird überlegt, was mögliche Strategien oder Wege wären, um zu diesen Zielen zu kommen. Alle Optionen sollen auf den Tisch kommen. Diese Möglichkeiten werden dann insofern gegeneinander abgewogen, als dass zu jeder Option Pro- und Contra-Argumente gefunden werden – und zwar von jedem für beide Seiten, jeder soll sich also von der eigenen Präferenz frei machen. Im nächsten Schritt geht es dann darum, dass jeder Beteiligte alles Gehörte ins Gebet nimmt. Danach gibt es einen Austausch, wo jeder mitteilt, was diese Optionen in seinem Beten ausgelöst haben. Wir gehen davon aus, dass in diesem ganzen Prozess nicht nur wir als Einzelne handeln, sondern dass alles vom Geist Gottes durchdrungen ist und begleitet wird.
Frage: Lässt sich ein solches Vorgehen auch auf synodale Prozesse wie in Deutschland oder weltweit übertragen? Im Vorbereitungsdokument der Weltsynode ist davon die Rede.
Retschke: Ich denke schon, das setzt aber ein hochgradig differenziertes Verständnis von Freiheit voraus. Einerseits muss sich der Prozess der Unterscheidung der Geister frei machen von einem Denken orientiert an Hierarchie, Macht und Einschüchterung. Stattdessen sollte das Vorgehen von Klugheit, Liebe und Gemeinschaftlichkeit bestimmt werden. Weiterhin sollte dieser Prozess frei machen von eigenen Affekten und Ambitionen, um gemeinsam das zu ergründen, was Gott mitteilt. Wenn diese Freiheiten nicht gegeben sind, kann der Prozess eingetrübt und in die falsche Richtung gelenkt werden. Wichtig ist auch, diese Freiheiten angesichts des Kreuzes zu haben. Es kann also sein, dass der Geist Gottes von manchen erwartet, unter den Sünden der anderen zu leiden. Die Unterscheidung heißt nicht, dass sich die eigene Position durchsetzt, auch wenn jemand fest davon überzeugt ist, dass die eigene Position dem Evangelium entspricht oder von den Zeichen der Zeit verlangt wird.
Frage: Die Kirche ist von extremen Hierarchiegefällen geprägt – zudem treten immer wieder Einzelpersonen auf, bei denen ersichtlich ist, dass sie sich selbst profilieren wollen. Heißt das, die Umsetzung der Unterscheidung der Geister ist bei beiden Prozessen unmöglich?
Retschke: Die Unterscheidung ist ein individueller Prozess, also können auch Individuen dadurch zu guten Entscheidungen kommen. Aber wenn statt der Offenheit für diesen Unterscheidungsprozess mit allen möglichen Ergebnissen die Angst vor einigen davon dominiert und die Sorge vor Machtverlust, dann tötet das den Geist. Dann geht es nicht voran. Macht und Ambitionen machen es sehr schwer, diesem Prozess zu folgen. Deswegen sind bei beiden Prozessen Begleiter wichtig, die darauf achten, dass solche Dynamiken nicht den größten Raum gewinnen.
Frage: Oft wird die Unterscheidung der Geister und dieser Konsens gegen demokratische Entscheidungen in Stellung gebracht. Doch am Ende muss es irgendwie zu einer Entscheidung kommen – und bei keinem synodalen Prozess wird es Einstimmigkeit geben. Wie soll es ohne Abstimmung funktionieren? In der Kirchengeschichte wurde ja immer am Ende abgestimmt mit einer Mehrheit und einer Minderheit.
Retschke: Der Jesuitenorden ist nicht als besonders demokratisch bekannt, sondern am Ende dieses Unterscheidungsprozesses steht ein Votum, das den Ordensoberen zur Entscheidung vorgelegt wird. Denn sicher: Wenn keine Entscheidung fällt, bleibt der Prozess in einem luftleeren Raum und das ist fast Zeitverschwendung.
Die Frage ist aber, wie diese Voten ausfallen. Ein Blick auf die Abstimmungen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65) zeigt, dass bestimmte Ergebnisse in der Art von 2200:78 Stimmen schon recht nah an der Einstimmigkeit sind. Herausfordernd – und der Unterschied zu rein demokratischen Entscheidungen – ist, dass 51-Prozent-Entscheidungen oder Voten nach einfacher Mehrheit gegen viele Enthaltungen nicht das Ziel sind beziehungsweise sein sollten. Da sollte man stutzig werden, ob solche Entscheidungen für die Kirche das Richtige sind. Denn das kann Gräben und Spaltungen verschärfen und vertiefen.