"Es knistert im Gebälk"
Mit dem "Theologieverlust" und dem Schwächerwerden der ökumenischen Impulse gebe es auch eine abnehmende Veränderungsbereitschaft, sagte Lehmann. Er unterstrich: "Wer nicht einzeln, in seiner Gemeinschaft und im größeren Miteinander im Glauben wachsen will, soll die Finger von der Ökumene lassen." Ausdrücklich bemängelte der Kardinal, auch viele Verantwortliche in den Kirchenleitungen hätten aus manchen Gründen die Entwicklung der Ökumenischen Theologie und der Gesprächsergebnisse faktisch wenig verfolgt oder gar ignoriert. Das gelte auch für viele theologische Fachkollegen, sofern sie nicht eigens Ökumenische Theologie trieben.
Lehmann sagte weiter, solange keine wirkliche Einheit gefunden sei, lasse sich wohl auch irgendeine Form von Konkurrenz zwischen den Kirchen nicht völlig vermeiden. Durchaus könne es unter den Konfessionen eine Art friedlichen Wettbewerbs geben, wenn dies dem Wachsen des Christlichen und Humanen in der Gesellschaft diene. Es sei aber, zumal in einer Mediengesellschaft, nicht so leicht, das gemeinsam Erworbene festzuhalten und zugleich die eigene Identität zu profilieren. Die Identitätssuche sei immer auch in der Gefahr, zu einer Überhöhung der eigenen Reichtümer und Schätze zu führen.
Lehmann: "Mit einer Stimme zu sprechen"
Gleichzeitig rief Lehmann die beiden großen Kirchen dazu auf, in politischen Debatten über ethische Fragen mit einer Stimme zu sprechen. Er beobachte mit Sorge, dass es in letzter Zeit Risse in den Positionen zur Bioethik gebe, sagte der Kardinal. Das gelte vor allem bei der Haltung zur embryonalen Stammzellforschung. Aber auch bei der ethischen Bewertung der Beihilfe zur Selbsttötung "knistert es im Gebälk".
Dabei sei nicht zu übersehen, dass es auch innerhalb der evangelischen Kirchenleitungen beträchtliche Unterschiede gebe, fügte Lehmann hinzu. Zerrissen sei die evangelische Kirche offenbar auch in ihren Auffassungen zur Familie und zur Sexualethik, wie unter anderem die Debatte über die jüngste Orientierungshilfe der EKD zur Familie zeige. Er habe den Eindruck, dass die theologisch-wissenschaftlichen Stimmen auf evangelischer Seite in letzter Zeit eher die Differenzen betonten.
"Angesichts der vielen Gemeinsamkeiten habe ich jedoch die Hoffnung, dass wir manche Missverständnisse beseitigen können", betonte der Kardinal. In den vergangenen 50 Jahren hätten beide Kirchen nicht nur in theologischen Fragen, sondern auch bei Fragen der ethischen Gestaltung der Gesellschaft eine "wichtige Säule" gemeinsamer Positionen geschaffen. Das gelte etwa für gemeinsame Stellungnahmen zur Transplantation, zu Migration, Europa sowie zu sozialen Fragen. In dieser Dichte gebe es außerhalb Deutschlands dafür kaum Parallelen. (bod)