Hilfsorganisationen richten auch Forderungen an Deutschland und Europa

Kirche beklagt dramatische Situation an belarussisch-polnischer Grenze

Veröffentlicht am 09.11.2021 um 15:16 Uhr – Lesedauer: 

Berlin ‐ Die Lage an der belarussisch-polnischen Grenze lässt auch die Kirche in Deutschland nicht kalt. Mit deutlichen Worten haben sich katholische Hilfsorganisationen nun zu Wort gemeldet und für mehr Menschlichkeit appelliert.

  • Teilen:

Die katholische Kirche in Deutschland blickt mit wachsender Sorge auf die angespannte Situation an der belarussisch-polnischen Grenze und die Lage der dort gestrandeten Flüchtlinge. "Nach allem, was wir von unseren Partnern auf beiden Seiten der Grenze hören, ist die Situation vor Ort tatsächlich dramatisch", sagte der Hauptgeschäftsführer des katholischen Osteuropa-Hilfswerks Renovabis, Thomas Schwartz, am Dienstag auf Anfrage von katholisch.de. Es mache fassungslos, dass das belarussische Regime um Präsident Alexander Lukaschenko offensichtlich die Notlage unschuldiger Menschen ausnutze, um Druck auf die EU auszuüben und die Staatengemeinschaft zu spalten.

Zugleich kritisierte Schwartz aber auch die Haltung Polens und der EU. Zwar sei es nachvollziehbar, dass Polen illegale Grenzübertritte auf sein Territorium verhindern wolle. "Gemäß den Prinzipien des humanitären Völkerrechts müsste Schutzsuchenden jedoch eigentlich die Möglichkeit eingeräumt werden, an den Außengrenzen der Europäischen Union Asyl zu beantragen", so der Renovabis-Hauptgeschäftsführer. Mit Blick auf die EU bemängelte er, dass die Staatengemeinschaft nicht auf die Eskalation an der belarussisch-polnischen Grenze und den unmenschlichen Umgang mit den Flüchtlingen dort vorbereitet gewesen sei. Auch deshalb gelinge es dem belarussischen Regime nun, Europa vorzuführen.

Renovabis: Flüchtlinge nicht zu Opfern politischer Spielchen machen

Schwartz appellierte an Belarus und Polen, im Umgang mit den Flüchtlingen Menschlichkeit walten zu lassen. Beide Staaten seien aufgerufen, die Menschen im Grenzgebiet nicht zu Opfern politischer Spielchen zu machen, sondern ihnen zu helfen. Hier sei auch Deutschland gefordert. Die Bundesrepublik müsse gemeinsam mit den anderen EU-Staaten Möglichkeiten schaffen, um den Flüchtlingen an der belarussisch-polnischen Grenze zu helfen und sie in Europa aufzunehmen. "Das ist eine Frage der Menschlichkeit", so Schwartz wörtlich. Der Bundestag solle möglichst schon jetzt die Bereitschaft Deutschlands erklären, ein Kontingent von Flüchtlingen aus dem Gebiet aufzunehmen. Außerdem solle die Bundesrepublik auf Polen einwirken, keine Gewalt gegen die Menschen an der Grenze anzuwenden, da ein solches Verhalten nicht mit europäischen Menschenrechtsvorstellungen vereinbar sei.

Bild: ©picture alliance / HANS PUNZ

Es mache fassungslos, dass das belarussische Regime um Präsident Alexander Lukaschenko offensichtlich die Notlage unschuldiger Menschen ausnutze, so Renovabis.

Der stellvertretende Direktor des Jesuiten-Flüchtlingsdiensts (JRS) in Deutschland, Stefan Keßler, kritisierte gegenüber katholisch.de, dass die polnischen Grenzschutztruppen "offenbar Gewalttaten an den Flüchtlingen" verübten. Schließlich sähe man immer wieder Menschen mit frischen Spuren von Schlägen und Hundebissen. Wieder einmal schienen im Umgang mit Flüchtlingen in Europa die Maßstäbe zu verrutschen. "Diese Menschen kommen aus Ländern, in denen Krieg, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen herrschen. Schutz für solche Flüchtlinge ist nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine sittliche Verpflichtung", sagte Keßler.

Jesuiten mit Kritik an der EU und Horst Seehofer

Dass die Situation an der belarussisch-polnischen Grenze so eskaliert sei, sei auch eine Folge der Zusammenarbeit der EU mit Autokraten wie dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bei der Abwehr von Schutzsuchenden, so der stellvertretende JRS-Direktor weiter. Dadurch werde die Staatengemeinschaft abhängig von dubiosen Partnern und damit erpressbar. Scharfe Kritik äußerte Keßler darüber hinaus am geschäftsführenden Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), der mit Blick auf die Flüchtlinge an der Grenze jüngst von einer "hybriden Bedrohung" gesprochen hatte. "Vielleicht liest Seehofer einmal bei Papst Franziskus nach: 'Und doch darf man nie vergessen, dass die Migranten an erster Stelle nicht Nummern, sondern Personen sind, Gesichter, Namen und Geschichten.' – und eben keine 'hybride Bedrohung'".

Die Lage im belarussisch-polnischen Grenzgebiet hat sich nach der Ankunft Hunderter Flüchtlinge in den vergangenen Tagen dramatisch zugespitzt. Schon seit Monaten versuchen Menschen, von Belarus aus in die EU zu gelangen. Die Staatengemeinschaft wirft dem belarussischen Präsidenten Lukaschenko vor, Migranten absichtlich aus Krisengebieten einzufliegen, um sie in die EU zu schleusen. Als Reaktion auf Sanktionen gegen sein Land hatte er mitgeteilt, Menschen auf ihrem Weg zu einem besseren Leben im "gemütlichen Westen" nicht mehr aufzuhalten. Polen und Litauen haben in den vergangenen Monaten Tausende Grenzübertritte gemeldet. Deutschland gilt als ein Hauptziel der Migranten.

Von Steffen Zimmermann