Caritas-Vizepräsidentin will Reformstau in der Kirche brechen

ZdK-Kandidatin Stetter-Karp: Klartext reden und vermitteln

Veröffentlicht am 17.11.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Berlin/Bonn ‐ Sie steht für Sozialpolitik und eine offene Kirche, die auf Menschen zugeht: Irme Stetter-Karp ist eine von zwei Kandidaten für die ZdK-Präsidentschaft. Im katholisch.de-Interview verrät sie ihre Ziele – und wie sie den Stimmen der Laien in Kirche und Gesellschaft Gehör verschaffen will.

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Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) wählt auf seiner Vollversammlung am Freitag und Samstag einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin für den bisherigen Präsidenten Thomas Sternberg. Zwei Bewerbungen gibt es: den Vorsitzenden des Bundes Katholischer Unternehmer (BKU), Ulrich Hemel, und die Vizepräsidentin des Deutschen Caritasverbands, Irme Stetter-Karp. Sie sieht die Kirche nach einem 50-jährigen Reformstau an Schmerzgrenzen. Im katholisch.de-Interview erläutert sie, wie das ZdK im Synodalen Weg die Zukunft der Kirche mitgestalten kann, was die Kirche insgesamt von der Caritas lernen kann, und wie die katholischen Laien an ihrem neuen Standort in Berlin mehr Einfluss auf die Politik nehmen können. Ein Interview mit Ulrich Hemel folgt am morgigen Donnerstag.

Frage: Frau Stetter-Karp, seit Jahrzehnten kommen ZdK-Präsidenten aus der Politik. Sie haben hauptsächlich im Bereich der Caritas gearbeitet – welche Erfahrungen bringen Sie für die ZdK-Präsidentschaft ein?

Stetter-Karp: Ich bringe mein ganzes Leben ein. In 39 Jahren im kirchlichen Dienst, davon 35 in Führungsverantwortung, und in der Phase mit kleinen Kindern habe ich Multitasking gelernt. Ich mag es, Welten zu verbinden: Theorie zu erden und Praxis zu reflektieren. Und aus meiner Führungserfahrung kenne ich zudem die Strukturen und die Kultur in der verfassten Kirche und in den Verbänden. Ich weiß auch, was Klerikalismus ist – und dass sich die Kirche selbst ins gesellschaftliche Abseits manövriert hat, dass viele ihr den Rücken gekehrt haben und es weiter tun.

Frage: Woran liegt das aus Ihrer Sicht?

Stetter-Karp: Der 50-jährige Reformstau hat uns an Schmerzgrenzen geführt. Eine Öffnung der Kirche, eine Anerkennung des Lebens in seiner ganzen Vielfalt ist aus meiner Sicht überlebensnotwendig.

Frage: Sie haben Donum Vitae mitgegründet, als die deutschen Bischöfe aus der Schwangerenkonfliktberatung aussteigen mussten. Damals waren Sie schon in einer kirchlichen Leitungsfunktion. Wie sind Sie mit diesem Konflikt umgegangen?

Stetter-Karp: Ich habe damals vorab meinen Generalvikar informiert, dass ich Donum Vitae mitgründen werde, damit er es nicht über Dritte erfährt. Ich habe ihm gesagt, dass das meine Gewissensentscheidung ist und er mich kündigen kann, wenn er glaubt, dass das nötig ist. Ich stehe zu dem, was mir wichtig ist. Auch wenn es Konsequenzen hat. Ich wurde dann aber nicht gekündigt.

„Wir Christen müssen unsere Positionen auf der Basis einer christlichen Überzeugung gegenüber jedweder Partei artikulieren.“

—  Zitat: Irme Stetter-Karp

Frage: Die Caritas hat einen deutlich besseren Ruf als "die Kirche" insgesamt. Was kann die Kirche von der Caritas lernen, um aus der Krise zu kommen?

Stetter-Karp: Die Caritas steht für eine diakonische, eine dienende Kirche, die sich als Dienstleisterin versteht, und zwar gemeinwohlorientiert, nicht profitorientiert. So bringt die Caritas ihre Kompetenzen und ihre Werte auch in gesellschaftspolitischen Fragen ein, auch zusammen mit vielen anderen. Bündnisfähigkeit zeigen, Netzwerke knüpfen, integrieren und vermitteln – das ist eine Aufgabe, die auch das ZdK hat.

Frage: Welche gesellschaftspolitischen Fragen stehen denn für das ZdK jetzt an?

Stetter-Karp: Zunächst ist es wichtig, dass wir uns im ZdK nicht von den binnenkirchlichen Debatten völlig einnehmen lassen, so wichtig die auch sind. Wir können es uns nicht leisten, uns ins gesellschaftspolitische Abseits zu spielen. Vor allen Einzelfragen ist die Frage der Solidarität in unserer Gesellschaft zentral. Die Pandemie spiegelt uns, wie notwendig solidarisches Handeln, Generationengerechtigkeit, gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland sind – für die Menschen selbst, aber auch für die Stabilität unserer Demokratie. Eine große Baustelle ist die Migrationspolitik und die Lage an den Außengrenzen der EU, dann die Pflegereform und der damit verbundene Fachkräftemangel. Den gibt es nicht nur im sozialen Bereich, aber dort, in den Krankenhäusern, in den Alten- und Pflegeheimen wird er existentiell für die Menschen. Schließlich müssen auch die Zukunftsperspektiven von Kindern und jungen Menschen auf die Tagesordnung, die in einer überalterten Gesellschaft leicht übersehen werden. Die Pandemie hat massive strukturelle Probleme in der Jugend- und Bildungspolitik gezeigt. Die Jugendpsychiatrien sind übervoll. Viele junge Menschen fühlen sich allein gelassen, das darf uns nicht kalt lassen. Ich bin selbst das zwölfte Kind einer Bauern- und Gastwirtsfamilie, ich habe sehr von den massiven Strukturreformen in der Bildung in den 1970er-Jahren profitiert – aber immer noch ist der Erfolg von Kindern viel zu sehr vom Elternhaus abhängig. Um da gehört zu werden, lohnt jede Anstrengung – auch gemeinsam mit anderen.

Frage: Wer schwebt Ihnen da vor als Bündnispartner?

Stetter-Karp: Ich bin da völlig offen – mir geht es dabei um die Inhalte. Ein gutes Beispiel ist das breite Bündnis ganz unterschiedlicher Herkunft für eine Kindergrundsicherung, das sich in den vergangenen Monaten gegründet hat.

Frage: Nach 16 Jahren wird das ZdK voraussichtlich eine Bundesregierung ohne Unionsbeteiligung als Gegenüber haben. Macht das die politische Arbeit für das ZdK einfacher oder schwieriger?

Stetter-Karp: Weder noch. Wir Christen müssen unsere Positionen auf der Basis einer christlichen Überzeugung gegenüber jedweder Partei artikulieren. Natürlich ist es wunderbar, wenn wir in den Parteien Persönlichkeiten haben, die für unsere Interessen stehen, aber es ist Gott sei Dank schon lange nicht mehr so, dass es diese Menschen nur in einer Partei gibt.

Bild: ©picture alliance/dpa/Marius Becker

Am Freitag wählt das ZdK bei seiner Vollversammlung in Berlin einen neuen Präsidenten oder eine neue Präsidentin.

Frage: Das ZdK-Generalsekretariat zieht demnächst nach Berlin – näher an die Bundespolitik. Wie wollen Sie diesen Wandel gestalten?

Stetter-Karp: Die Nähe zum politischen Tagesgeschehen birgt viele Chancen – dort sind aber auch viel mehr Lobbyorganisationen vor Ort. Im Caritasverband haben wir mit unserer Vertretung in der Hauptstadt seit vielen Jahren gute Erfahrungen gemacht. Damit der Umzug für das ZdK ein Erfolg wird, müssen wir uns klug vernetzen, lösungsorientiert positionieren und bei unserem Lobbying klare Prioritäten setzen. Für ein neues Lobbykonzept für das ZdK gibt es bereits erste Überlegungen, dazu berät eine Arbeitsgruppe. Wir werden aber auch an der Arbeitsweise des ZdK insgesamt arbeiten müssen und da Prioritäten setzen.

Frage: Prioritäten setzen ist einfacher als Abstriche machen, aber das gehört zusammen. Haben sie schon etwas im Blick, was wegfallen kann?

Stetter-Karp: Ich halte es für notwendig, auch Abschied zu nehmen – aber vor der Wahl anzukündigen, was das sein soll, fände ich vermessen. In Rottenburg-Stuttgart habe ich als Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft katholischer Organisationen und Verbände in den 1990er Jahren mit einem mehrheitsfähigen Antrag im Diözesanrat einen Prioritätsprozess initiiert. Das funktioniert aber nicht per einseitiger Ansage. Dazu braucht es einen gemeinsamen, kollegialen Prozess. So will ich auch im ZdK arbeiten, und nicht allzu präsidial.

Frage: Nicht nur das ZdK ist im Umbruch, auch die Kirche berät über ihre Zukunft. Wo steht der Synodale Weg gerade?

Stetter-Karp: Ganz formal steht er kurz nach einer ersten Lesung und vor einer zweiten Lesung der Papiere. Nach 50 Jahren Reformstau besteht schon die Befürchtung, dass der große Wurf nicht auf einmal kommen wird. Es ist aber notwendig, jeden Schritt zu gehen, der gegangen werden kann, gerade auch mit Blick auf die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt. In Baden-Württemberg war ich in den Beratungsgremien der Landesregierung zur Aufarbeitung von Missbrauch in der Heimerziehung. Diese Erfahrung hat mich gelehrt, dass die schmerzhafte Erfahrung der Betroffenen nicht einfach delegiert werden kann, auch nicht von den Laien auf die Bischöfe oder auf Expertenkreise. Was der scheidende Beauftragte der Bundesregierung, Johannes Wilhelm Rörig, für die Politik anmahnt, nämlich eine Befassung im Parlament, das gilt sinngemäß auch für uns. Die vom ZdK eingesetzte Arbeitsgruppe zum Missbrauch ist da ein erster Schritt, aber es braucht noch mehr.

Frage: Was braucht es noch?

Stetter-Karp: Das ZdK muss ein überdiözesanes Monitoring von den Bischöfen einfordern. Eine Evaluation der Aufarbeitung ist nur möglich, wenn es diesen Überblick gibt – das fehlt momentan noch. Wichtig ist aber auch: Die Rolle der Laien kann nicht nur die der Saubermänner und -frauen sein. Wir müssen uns persönlich existentiell und spirituell von den Erfahrungen der Missbrauchsbetroffenen berühren lassen. Das geht ins Mark, aber diesen Mut braucht es für eine umfassende Aufarbeitung.

„Ich möchte, dass die Sprache der Kirche und die Sprache des ZdK so ist, dass Menschen sie verstehen, und dass wir sagen können, dass wir die Menschen in ihren Lebenswelten und ihrer ganzen Vielfalt verstanden haben..“

—  Zitat: Irme Stetter-Karp

Frage: Der Synode Weg ist eine Konsequenz aus der MHG-Missbrauchsstudie. Haben Sie den Eindruck, dass die Missbrauchsaufarbeitung zentral genug ist beim Synodalen Weg? Vor allem scheint es um eine Reformagenda zu gehen, die es schon lange vor der MHG-Studie gegeben hat.

Stetter-Karp: Es ist berechtigt, immer wieder auf diesen Anlass des Synodalen Wegs hinzuweisen. Es braucht mahnende Stimmen, die immer wieder daran erinnern, was die MHG-Studie festgestellt hat. Die MHG-Studie hat aber explizit auf die kirchlichen Strukturen, den Klerikalismus und die Gefährdungen, die daraus entstehen, hingewiesen. Dazu gibt es Bezüge in allen Foren. Der Widerspruch zwischen Konsequenzen aus dem Missbrauch ziehen und Reformen zu fordern, die schon vorher gefordert wurden, besteht also nicht.

Frage: Viele der Vorschläge, die bisher vorliegen, dürften mit Blick auf die Universalkirche schwer umsetzbar sein, es gibt dogmatische und ekklesiologische Anfragen, ob das alles so mit der Position des Lehramts vereinbar ist. Wie kann das ZdK hier für Verständnis in Rom sorgen?

Stetter-Karp: Reformen kommen selten von oben. Ich weiß natürlich gut, wo die Macht in der Kirche liegt. Aber wir sollten uns zuerst auf die hiesigen Ortskirchen konzentrieren. In keiner Diözese wird der Raum, den es jetzt schon für Gestaltung gibt, ausgeschöpft. Klar ist aber auch, dass einige Vorschläge nur mit Rom gehen – etwa wenn es um Fragen der Sexualmoral der Kirche geht, wo wir Positionen haben, die so momentan nicht vom Katechismus gedeckt sind. Wir müssen beide Wege parallel gehen, in den Ortskirchen und im Dialog mit Rom. Überhaupt ist "Rom" ja auch nur ein Label für eine komplexe Lage. Auch im Vatikan gibt es viele unterschiedliche Positionen.

Frage: Wenn Sie zur ZdK-Präsidentin gewählt werden – worauf möchten Sie nach einer Amtszeit zurückblicken können?

Stetter-Karp: Ich möchte, dass die Sprache der Kirche und die Sprache des ZdK so ist, dass Menschen sie verstehen, und dass wir sagen können, dass wir die Menschen in ihren Lebenswelten und ihrer ganzen Vielfalt verstanden haben. Ich hoffe, dass ich in all den Konflikten in der Kirche vermitteln konnte. Auch als Präsidentin habe ich es nicht allein in der Hand, ob die Amtszeit ein Erfolg wird. Dazu braucht es Gottes Segen und Weggefährtinnen und -gefährten, die den Weg mitgehen und das ZdK und die Kirche voranbringen. Ich will am Ende einer ersten Amtszeit sagen können, dass ich Klartext geredet habe, dass ich vermitteln konnte, und dass wir gemeinsam mit den Bischöfen einen Schritt weiter gegangen sind.

Von Felix Neumann

Zur Person

Irme Stetter-Karp (*1956) ist seit 2020 Präsidentin des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge und seit 2010 Vizepräsidentin des Deutschen Caritasverbands. Von 1981 bis zu ihrem Ruhestand wirkte die promovierte Sozialwissenschaftlerin in kirchlichen Führungsämtern, zunächst als Diözesanvorsitzende des Bundes der deutschen katholischen Jugend (BDKJ) und Leiterin des Bischöflichen Jugendamtes in ihrem Heimatbistum Rottenburg-Stuttgart, später als Diözesancaritasdirektorin und Ordinariatsrätin sowie Leiterin der Hauptabteilung Caritas im Bischöflichen Ordinariat. Im ZdK ist sie seit 2016 Vertreterin des Deutschen Caritasverbandes, seit 2017 Mitglied des ZdK-Hauptausschusses und seit Beginn des Synodalen Wegs Mitglied der Synodalversammlung sowie des Synodalforums "Leben in gelingenden Beziehungen – Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft".