Sind Geistliche Gemeinschaften anfälliger für geistlichen Missbrauch?
Spiritueller Druck, sektenartige Strukturen – solche Vorwürfe erheben häufig ehemalige Mitglieder gegen Geistliche Gemeinschaften. In Deutschland wurden zwei von ihnen in den vergangenen Monaten sogar aufgelöst: "Totus tuus" im Bistum Münster und die "Katholische Integrierte Gemeinde" im Erzbistum München und Freising. Die Erfurter Pastoraltheologin und Religionspädagogin Maria Widl, die sich seit Jahren mit Geistlichen Gemeinschaften beschäftigt, erklärt, wie solche Vereinigungen "ticken" – und spricht über eventuelle Risikofaktoren.
Frage: Frau Professorin Widl, aus welchem "Verlangen" heraus sind Geistliche Gemeinschaften entstanden?
Widl: Das Wesentliche bei Geistlichen Gemeinschaften ist, dass Menschen in ihnen zusammenkommen, die auf der Suche nach einem intensiveren geistlichen Leben sind. Die Pfarrgemeinden haben die enorme Stärke, Kirche am Ort und zugänglich für jeden zu sein. Sie bringen sozusagen den guten, fortschrittlichen Standard. Früher hatte man nur die Wahl, entweder in diesem Standard zu leben oder sich einer Ordensgemeinschaft anzuschließen. Doch gerade in den vergangenen 100 Jahren ist bei einigen das Bedürfnis, zu einem intensiveren geistlichen Leben zu kommen und trotzdem kein gottgeweihtes Leben im klassischen Sinn zu führen, gewachsen. Das ist aber im Kontext von Pfarrgemeinde meistens nicht möglich.
Frage: Wie lassen sich Geistliche Gemeinschaften generell charakterisieren?
Widl: Sie haben immer eine spezielle Art von Spiritualität, einen bestimmten Zugang zum Glauben. Menschen schließen sich ihnen an, weil sie den Eindruck haben, dass sie im Rahmen der jeweiligen Gemeinschaft zu sich selbst und zu einer stärkeren Gottesbeziehung finden können. Gleichzeitig haben die Gemeinschaften immer jemanden, der sie inspiriert, der so etwas wie einen geistlichen Führer darstellt. Diese Person hat eine gewisse Art von Anziehungskraft, die Menschen anspricht.
Frage: Gerade diese Faktoren scheinen sich manchmal als toxisch zu erweisen: Die Gemeinschaft "Totus tuus" ist zuletzt wegen Fällen geistlichen Missbrauchs aufgelöst worden. Sind Geistliche Gemeinschaften per se anfällig für Formen des geistlichen Missbrauchs?
Widl: Wo besonders Spiritualität, die eigene Geistigkeit und die Gottesbeziehung im Zentrum stehen, kann das natürlich missbraucht werden. Gerade geistliche Gemeinschaften wie "Totus tuus" zeichnen sich durch eine ziemlich traditionale Gläubigkeit aus. Die Art, wie dort der Glaube verstanden wird, ist dem nicht so unähnlich, wie der Glaube vor 50 oder 70 Jahren noch gepredigt worden ist: nämlich als eine ziemlich klare und eindeutige Vorgabe, wie man sich zu verhalten hat und an welchen Ecken die Strafe Gottes droht. Das heißt, die ganze Erneuerung, die sich die Kirche durch das Konzil gegeben hat, war auch eine Distanzierung vom dem, was heutzutage als geistlicher Missbrauch verstanden wird. Es kam in der Folge zu einer ganz anderen Form der Freiheitlichkeit und des Ernstnehmens von Individualität und Personenwürde in der Kirche. In manchen Gemeinschaften ist dieses Traditionale, das früher das "Normale" der Kirche war und viele heute nicht mehr ertragen können, noch da, weil es auch Leute gibt, die genau das suchen.
Frage: Wie leicht entwickeln sich sektenartige Strukturen in den Geistlichen Gemeinschaften?
Widl: Die Grundlogik von Geistlichen Gemeinschaften kann man schon mit denen von Sekten vergleichen. Es ist besonders die Anziehungskraft dieses geistlichen Weges und der Personen, die ihn vertreten – gepaart mit einer gewissen Konsequenz und Radikalität, einer Ernsthaftigkeit im Glauben. Eine solche Ernsthaftigkeit tendiert aber auch dazu, mit dem Geglaubten wirklich ernst zu machen und sich gleichzeitig gegenüber den anderen abzugrenzen. Da ist man dann ganz schnell dabei, eine Ideologie zu vertreten.
Frage: Inwiefern sind dabei charismatische Gründungs- oder Leitungspersönlichkeiten ein Problem?
Widl: Je stärker eine solche Persönlichkeit ist, umso anfälliger ist sie auch, andere zu manipulieren. Es gibt Leiter solcher Gemeinschaften, die hocherfahren sind im Umgang mit Menschen, die ein sehr gutes pastorales Verständnis haben, die möglicherweise auch eine sehr gute psychologische Grundausbildung haben. Die sind vor Missbrauchssituationen gefeiter, weil sie eine Art Werkzeugkasten von guten Umgangsmöglichkeiten haben sowie ein gutes Bewusstsein dafür, wo die Gefahren lauern. Es gibt oder gab aber natürlich auch Gründungs- oder Leitungspersönlichkeiten, die ziemlich unbedarft an die ganze Sache herangehen, die alles aus ihrer persönlichen Spiritualität ziehen. Wenn die dann das, was ihnen guttut, umstandslos und recht ahnungslos bei anderen anwenden, dann sind Missbrauchssituationen vorprogrammiert.
Linktipp: Neue Geistliche Gemeinschaften: Chance oder Störfaktor?
Glauben hat viele Formen – Neue Geistliche Gemeinschaften sind eine davon. Manche sehen diese Bewegungen als Frischzellenkur für das Glaubensleben, andere äußern Kritik. Darum geht es in der neuen Folge vom katholisch.de-Podcast "Aufgekreuzt".
Frage: Fälle geistlichen Missbrauchs werden teilweise erst nach Jahren bekannt. Es scheint gerade in solchen Gemeinschaften keine Kontrollstrukturen zu geben…
Widl: Man darf eines nicht vergessen: Ob etwas sich als missbräuchlich erweist, ist zu dem Zeitpunkt, an dem der Missbrauch geschieht, für die Betroffenen mitunter nicht sichtbar. Ich erinnere mich an Geschichten aus Gemeinschaften: Da haben Leute gesagt, sie seien immer hin- und hergerissen gewesen, sie hätten ohne die Gemeinschaft nicht leben können. Gleichzeitig hätten sie gemerkt, dass sie immer weniger gewusst hätten, wie damit umzugehen sei. Es entsteht oft ein Abhängigkeitsverhältnis, wie man es auch aus Paarbeziehungen kennt. Es kann immer wieder zu Situationen kommen, in denen die Leitungspersonen mehr als fahrlässig handeln – vor allem dann, wenn die Leitungsperson keine entsprechende psychologische Ausbildung hat. Und das ist mancherorts der Fall. Aber es gibt bereits verschiedenste Bemühungen, die Gemeinschaften besser im Blick zu haben und mit ihnen gemeinsam nach Wegen zu suchen. Die Frage des geistlichen Missbrauchs wird seit einigen Jahren auch von der Deutschen Bischofskonferenz ganz intensiv bearbeitet, es werden Strukturen geschaffen, um die Gemeinschaften da zu sensibilisieren und ihnen Möglichkeiten aufzuzeigen, wie sie dem begegnen können. So ist ein Ausbildungsangebot für Leiterinnen und Leiter geistlicher Gemeinschaften auf dem Weg.
Frage: Man hat den Eindruck, dass gerade in der letzten Zeit Vieles aus geistlichen Gemeinschaften ans Tageslicht gekommen ist. Liegt das nur daran, dass es innerkirchlich inzwischen mehr Sensibilität für das Thema geistlichen Missbrauch gibt? Oder hängt das auch damit zusammen, weil die Generation der Gründerfiguren zum Teil inzwischen verstorben ist und sich dadurch manch alte Strukturen aufgelöst haben?
Widl: Aus meiner Sicht liegt es vor allem daran, dass im Kontext des gewachsenen Bewusstseins über sexuellen Missbrauch viele aufgestanden sind und gesagt haben: Sexuell bin ich nicht missbraucht worden. Aber es gibt nicht nur körperlichen, sondern auch geistigen Machtmissbrauch; und der schädigt die Betroffenen zumindest ebenso.
Frage: Gerade von konservativer Seite wurden Geistliche Gemeinschaften lange als der Zukunftsweg der Kirche gepriesen. War das tatsächlich jemals so – oder wurden sie größer gemacht, als sie tatsächlich sind?
Widl: Geistliche Gemeinschaften waren in der Kirchengeschichte immer ein wesentlicher Weg zur Erneuerung der Kirche. Das gilt nicht nur für konservative Kräfte. Denken wir daran, dass gerade im deutschsprachigen Raum etwa durch die Bibelbewegung, die Liturgische Bewegung und die Arbeiterjugend in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Dynamiken in Gang gesetzt wurden, die jenen "Sprung nach vorn", also jenen Paradigmenwechsel zur modernen freiheitlich-biblischen Gemeindekirche vorgezeichnet haben, der gesamtkirchlich ins Konzil gemündet ist.