Religionssoziologe: Kirche hat falsch auf Negativtrends reagiert
Laut dem Religionssoziologen Michael N. Ebertz liegt die Dauerkrise der Kirche auch an falschen Einschätzungen von Abwärtstrends durch Verantwortliche. Bei Entwicklungen wie der kontinuierlich abnehmenden Zahl von Gottesdienstbesuchern habe man, "statt dem Messbaren des rücklaufenden Trends zu vertrauen und entsprechend zu intervenieren", mit anderen Erfahrungen spekuliert, "ohne diesen auf den Grund zu gehen", schreibt Ebertz in einem Beitrag für feinschwarz.net. Man habe Vorausberechnungen nicht vertraut, sondern darauf, dass es irgendwie "anders kommen würde". Ebertz lehrt Sozialpolitik, Soziologie, freie Wohlfahrtspflege und kirchliche Sozialarbeit an der Katholischen Hochschule Freiburg.
Diese Haltung, die Ebertz mit "Allerdings-da" umschreibt, sei von Kirchenvertretern "gern mit kaum zu übertreffender Selbstgewissheit im triumphalistischen Gestus" gepflegt worden. "Was soll das Krisengequatsche im Blick auf die Kirche? Man müsse das Krisenwort verbieten und damit auch die Krise", sei die vorherschende Meinung gewesen. Auch andere Entwicklungen seien frühzeitig geahnt worden, etwa die Sprengkraft der Frauenfrage in der Kirche sowie die Krise in der Glaubensweitergabe in Familie und Gemeinde.
Fixierung auf das überkommene Reproduktionsmuster überwinden
Wenn die Kirche dieses "Allerdings-da" nicht unbeirrt weiterpflegen wolle, stehen laut Ebertz mehrere Paradigmenwechsel an. Einer sei die Überwindung der Fixierung auf das überkommene kirchliche Reproduktionsmuster, sprich des Wachstums als "Nachwuchskirche". Daneben hätte die Kirche "auch ihr vorwiegend rechtliches Verständnis legitimer Liebe und Sexualität, aber auch von Sünde und Heil zu verlassen und ihre normgeleiteten in wertgeleitete Erwartungen an ihre Mitglieder zu verwandeln".
Ein weiterer Paradigmenwechsel ziele auf den Abbau von bislang praktizierten Abwehr- und Ausschließungsmechanismen sowie auf den Einbau von nachhaltigen Lernmechanismen ins kirchliche Feld. "Hierfür braucht es Arenen der Multiperspektivität", so Ebertz. Sie könnten aktuellen, ehemaligen und zukünftigen Kirchenmitgliedern als Adresse für Erfahrungen, Enttäuschungen und Widerstände und als Orte dienen, "wo sie wahr- und ernst genommen und lösungsorientiert bearbeitet werden". (mal)