Pater Martin Maier seit 100 Tagen im Amt

Adveniat-Chef über Spenden-Rückgang: Wir leiden unter Krise der Kirche

Veröffentlicht am 09.12.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Essen ‐ Pater Martin Maier steht nun seit etwas mehr als drei Monaten an der Spitze des Hilfswerks Adveniat. Im 100-Tage-Interview spricht der Jesuit und Hauptgeschäftsführer über die Freuden seiner Arbeit, die wichtigen Themen seiner Amtszeit und seinen Blick auf den synodalen Prozess in Lateinamerika.

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Seit September steht Pater Martin Maier an der Spitze von Adveniat. Der 61 Jahre alte Jesuit hat zuvor in El Salvador gelebt, die Zeitschrift "Stimmen der Zeit" geleitet und in Brüssel als Beauftragter für Europäische Angelegenheiten im "Jesuit European Social Centre" gearbeitet. Im 100-Tage-Interview verrät Maier, was ihm an der Arbeit bei Adveniat gefällt und welche Themen in seiner Amtszeit wichtig werden.

Frage: Pater Maier, Sie sind nun seit 100 Tagen als Hauptgeschäftsführer von Adveniat im Amt. Vorher waren Sie Pfarrer, Journalist und Lobbyist. Nun stehen Sie an der Spitze einer Hilfsorganisation, die einen ganzen Kontinent im Blick hat. Haben Sie Respekt vor dieser Aufgabe?

Maier: Als ich gefragt wurde, ob ich die Verantwortung für Adveniat übernehmen will, war ich überrascht. Ich wäre selbst nicht auf diese Idee gekommen. Aber als ich über das Angebot nachgedacht habe, wurde mir klar, dass es eine große Chance ist. Mich verbindet eine lange Geschichte mit Lateinamerika, besonders mit dem Land El Salvador. Ich habe vor allem die Möglichkeit gesehen, gemeinsam mit dem tollen Team der kompetenten und engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Adveniat im Sinn der vorrangigen Option für die Armen tätig zu werden. Ich hatte und habe immer noch großen Respekt vor dieser Aufgabe. Aber nach den ersten Monaten im Amt überwiegt das wirklich gute Gefühl, dass wir einen großen Dienst an den Menschen Lateinamerikas leisten. 

Frage: Was macht Ihnen an Ihrer Arbeit besonders viel Freude?

Maier: Vor allem arbeite ich gerne im Team. Wir sind in der Geschäftsführung zu zweit: Meine Kollegin als Geschäftsführerin ist Tanja Himer, die für den Bereich Inland, Spendenkommunikation und administrative Angelegenheiten zuständig ist. Mein Schwerpunkt liegt in den Bereichen Projektarbeit und Ausland. In meinem Arbeitsbereich bekomme ich jeden Tag konkrete Beschreibungen von Hilfsprojekten auf den Tisch. Es ist ungemein spannend, das alles zu lesen und sich vorzustellen, um wen es dabei konkret geht. Es ist sehr ermutigend für die Menschen in Lateinamerika, wenn sie merken, dass sie nicht allein sind und Unterstützung erhalten.

Frage: Und welche Tätigkeiten machen Ihnen weniger Spaß?

Maier: (lacht) Da fällt mir im Moment gar nichts ein. Ich bin sehr glücklich bei Adveniat.

Heinz und Maier im Essener Dom
Bild: ©Andre Zelck/KNA

Michael Heinz, bisheriger Hauptgeschäftsführer von Adveniat, mit Martin Maier bei seiner Amtseinführung als neuer Hauptgeschäftsführer des Hilfswerks am 1. September 2021 im Essener Dom.

Frage: Das Spendenaufkommen von Adveniat ist aufgrund der Corona-Beschränkungen bei den Weihnachtsgottesdiensten im vergangenen Jahr im Vergleich zum Vorjahr deutlich geschrumpft. Aber trägt nicht auch die aktuelle Situation der Kirche in Deutschland dazu bei, dass immer weniger Menschen für kirchliche Hilfswerke spenden wollen?

Maier: Adveniat und die anderen Hilfswerke leiden natürlich unter der Krise der Kirche. Die schlechte Lage ist vor allem eine Vertrauenskrise: Ich überlasse mein Geld nur jemandem, dem ich mein Vertrauen schenke, weil ich dann gewiss sein kann, dass er gut damit umgeht. Ich kann allen Spenderinnen und Spendern versichern, dass das bei Adveniat in Kooperation mit den Partnereinrichtungen vor Ort auch geschieht.

Frage: Was sind die anderen großen Herausforderungen Ihrer Amtszeit?

Maier: Es ist der Auftrag von Adveniat, auf Veränderungen in Lateinamerika hinzuarbeiten. Im Anschluss an die Amazonas-Synode 2019 ist eines der bedeutendsten Themen der Schutz der Regenwälder, die "Sorge um unser gemeinsames Haus" wie es in der Enzyklika "Laudato si" von Papst Franziskus heißt. Das bedeutet auch, die soziale und die ökologische Frage als Einheit zu sehen. Deshalb ist Adveniat Teil des kirchlichen Amazonas-Netzwerks "Repam", das sich dieser Aufgabe verschrieben hat. Das ist ein ganz wichtiges Feld.

Frage: Welche weiteren Themen sind für Ihre Arbeit aktuell von großer Bedeutung?

Maier: Adveniat möchte an strukturellen Veränderungen in Lateinamerika mitwirken. Der bedeutende brasilianische Bischof Hélder Câmara (1909-99) hat es einmal so auf den Punkt gebracht: „Wenn ich den Armen zu essen gebe, werde ich von allen als Heiliger gelobt. Aber wenn ich die Frage stelle, warum es so viele Hungernde gibt, dann werde ich als Kommunist beschimpft.“ Das beschreibt den Schritt von der karitativen Nothilfe, die gut und notwendig ist, hin zur Frage der strukturellen Veränderungen. Mir gefällt in diesem Zusammenhang das Wort Lobbyismus nicht so sehr, denn Lobbyisten vertreten Interessen von Firmen und eigene Ziele – was nicht unbedingt schlecht sein muss. Ich habe entsprechende Erfahrungen während meiner Tätigkeit in Brüssel gemacht. Aber ich verstehe die Arbeit von Adveniat mehr im Sinn von Anwaltschaft. Ich möchte ein Anwalt der Menschen in Lateinamerika sein, so wie der heilige Óscar Romero (1917-80) sagte, er möchte „die Stimme derjenigen sein, die keine Stimme haben“. Wir wollen auch darauf hinarbeiten, dass die, die keine Stimme haben, selbst sprachfähig werden und sich einbringen können. Deshalb ist Adveniat stark im Bereich der Bildungsarbeit engagiert. Ein wichtiger Punkt ist hier die Befähigung von Laien und Frauen in der Kirche.

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Frage: In der Kirche Lateinamerikas ist derzeit viel im Wandel: Bei der lateinamerikanischen kirchlichen Versammlung in Mexiko-Stadt Ende November haben Kleriker und Laien gemeinsam über die Zukunft der Kirche beraten. Schaut Adveniat ausreichend auf diese wichtigen Entwicklungen? Man bekam jedenfalls den Eindruck, dass Adveniat mehr mit der Adventsaktion befasst war als mit der kirchlichen Versammlung…

Maier: Es ist tatsächlich so, dass es hier eine etwas unglückliche Gleichzeitigkeit gegeben hat. Für Adveniat steht fest, dass die Eröffnung unserer Weihnachtsspendenaktion am ersten Adventswochenende stattfindet und genau in dieser Woche wurde auch die kirchliche Versammlung für Lateinamerika und die Karibik abgehalten. Ich war sogar persönlich eingeladen, dorthin zu kommen. Wegen Corona waren letztlich nur 70 Personen in Mexiko vor Ort, doch 1.000 Menschen nahmen online teil. Ich war punktuell bei einigen Beratungen über das Internet dabei, was wegen der Zeitverschiebung teilweise möglich war. So konnte ich wenigstens ein wenig mitverfolgen, was dort vor sich geht. Mein Vorgänger, Pater Michael Heinz, der bald nach Lateinamerika zurückkehren wird, hatte die Gelegenheit, kontinuierlicher teilzunehmen. Ich hatte ihn gebeten, Adveniat in der Kirchenversammlung zu vertreten. 

Frage: Was kann die Kirche in Deutschland von den Erfahrungen und Ergebnissen der Kirchenversammlung lernen?

Maier: Die Kirche in Deutschland ist derzeit selbst auf dem Synodalen Weg unterwegs. Ähnlich ist es auch in Lateinamerika, schließlich hat Papst Franziskus für die gesamte Weltkirche einen synodalen Prozess angestoßen. Da ist es wichtig, sich gegenseitig zu informieren und zur Kenntnis zu nehmen, was auf den verschiedenen Kontinenten geschieht. Ich habe darüber nachgedacht, dass Adveniat Vertreter aus Lateinamerika zur nächsten Vollversammlung des Synodalen Wegs in Deutschland einladen könnte. Denn Franziskus geht es mit dem weltweiten synodalen Prozess ja darum, die Kirche in Bewegung zu bringen und in einem Prozess gemeinsamer geistlicher Unterscheidung herauszufinden, was die Zeichen der Zeit sind, welche Herausforderungen sich heute stellen. Die katholische Kirche ist der größte "Global Player" der Welt. Darin liegen enorme Chancen: Wenn sich die Kirche weltweit den Klimaschutz auf die Fahnen schreibt und danach handelt, weil sie die enorme Bedeutung dieses Themas erkannt hat, ist das ein riesengroßer Beitrag zu einer sozioökologischen Transformation. Wir haben leider nur wenig Zeit, um diesen Wandel in die Wege zu leiten.

Frage: Lateinamerika ist die Region der Welt, in der die meisten Morde an Umweltschützern geschehen. Wie kann Adveniat hier helfen?

Maier: Dadurch, dass wir die Menschen in der Kirche in Lateinamerika unterstützen, die auf diesem Feld engagiert sind, und dort, wo Menschen bedroht werden, die Einschüchterungsversuche an die Öffentlichkeit bringen, um die Aktivisten zu schützen. Beim Thema Umwelt ist einiges in der Kirche in Bewegung und Adveniat ist bei entsprechenden Netzwerken engagiert. Wir haben einen politischen Auftrag dabei mitzuhelfen, dass Gesetze zum Umweltschutz eingehalten und nicht durch Korruption umgangen werden. Ich denke da etwa an den Schutz der Regenwälder in Brasilien. Auch versuchen wir Einfluss darauf zu nehmen, dass bessere Gesetze entstehen. Die Zusammenarbeit mit der Politik ist manchmal sehr erfolgreich, so waren wir etwa in Kolumbien am Prozess der Friedensvermittlung beteiligt. Deshalb richte ich den eindringlichen Wunsch an die neue Bundesregierung, dass sie Lateinamerika nicht aus dem Blick verliert und beispielsweise beim schwierigen Friedens- und Versöhnungsprozess in Kolumbien mitwirkt.

Von Roland Müller