Seit 1885 kümmern sich die Vinzentinerinnen um ungewollte Kinder

Keine Chance auf Familie: Die Findelkinder von Bethlehem

Veröffentlicht am 09.12.2021 um 12:30 Uhr – Lesedauer: 
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Bonn ‐ An der Krippe Hoffnung schenken: Das versuchen schon seit über 135 Jahren katholische Ordensfrauen in Bethlehem. Am Geburtsort Jesu ziehen sie Kinder auf, die keiner will – oder haben darf. Ein harter Job, aber so wichtig.

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"I love my mommy, I love my daddy and they love me", lacht der Strampler des schlafenden Säuglings den Betrachter mit blauen Buchstaben auf weißem Flanell entgegen. Die Worte klingen zynisch in seiner Situation. Der Junge heißt Karam. Eltern hat er offiziell keine. Sein Gitterbett steht neben denen von Miral, Mansour und Layal. Sie sind zwischen einem Tag und sechs Jahren alt, und ihnen allen ist eines gemeinsam. Sie leben in der "Creche" (Krippe) in Bethlehem.

Seit 1885 kümmert sich der französische Frauenorden der "Töchter der Barmherzigkeit des heiligen Vinzenz von Paul" (kurz Vinzentinerinnen) hier um jene, die keinen anderen Ort haben, um Mensch zu werden: verlassene Kinder, Inzest- und Verwaltigungskinder, Waisen.

Karam, Mansour und die vielen anderen wurden außerhalb gesellschaftlich anerkannter Beziehungen geboren. Oder noch schlimmer: Nicht wenige der vielfach noch minderjährigen Mütter wurden von Familienmitgliedern vergewaltigt, wie die libanesische Vinzentinerin Laudy Fares berichtet. Frauen, die außerhalb der Ehe schwanger werden, haben keinen Stand in der traditionell islamischen Gesellschaft, in der uneheliche Kinder als Schande gelten und Abtreibung verboten ist. Nicht selten sind die werdenden Mütter in akuter Gefahr. Ehrenmorde sind bis heute in Palästina präsent.

Zu frühe Geburten – aus Scham

Die Frauen halten ihre Schwangerschaften aus Angst geheim. Wenn der Bauch sichtbar wird, entbinden sie per Kaiserschnitt, "oftmals viel zu früh", und kehren mit den versteckten Narben an Körper und Seele zurück in die ehrenwerte Familie. Zurück bleiben ihre Kinder, geboren unter einem unguten Stern. "Wir sind die Stimme dieser Kinder, die selbst keine Stimme haben. Sie brauchen unsere Hilfe", erklärt Schwester Laudy das Engagement des Ordens in einer Stadt, die mit der Feier der Geburt ihres berühmtesten Neugeborenen jedes Jahr Zehntausende Besucher anzieht. Die Ordensfrauen sind mehr. "Wir behandeln sie wie unsere Kinder oder Geschwister."

Bild: ©KNA/Andrea Krogmann

Ein Schlafsaal für ältere Kinder im Waisenhaus "La Creche" ("die Krippe").

Die Creche ist die einzige Einrichtung in den palästinensischen Gebieten, die die ungewollten Kinder aufnimmt, erzählt Schwester Laudy, die seit 2007 in dem Waisenhaus und Kindergarten in Bethlehem tätig ist. Die Einrichtung mit derzeit drei Ordensschwestern und rund 70 Angestellten ist nach wie vor die einzige, der die Behörden diese Mission zugestehen – mit strikten Begrenzungen: "Die Kinder, die so geboren werden, gelten als Kinder des Staates. Wir dürfen ihnen nur neutrale arabische Namen geben; erkennbar christliche Namen sind ebenso tabu, wie es verboten ist, die Findelkinder zu taufen."

Corona belastete in mehrfacher Hinsicht

Auch die Corona-Pandemie hat die Creche getroffen. Staatliche Unterstützung erhalten sie nicht; die Kosten müssen Spenden decken – die in den vergangenen Jahren immer weniger wurden. Das Pilger- und Gästehaus St. Vincent, die einzige eigene Einnahmequelle der Schwestern, steht seit März 2020 leer. Die Creche hingegen ist voll.

"47 Kinder leben derzeit mit uns; zusätzlich besuchen rund 50 Kinder von außerhalb die Krippe als Kindertagesstätte", sagt die Ordensfrau. Die Zahlen der ausgesetzten Kinder wie auch der Sozialfälle haben seit Covid-19 noch einmal zugenommen, ebenso Armut und Gewalt. Die Stimme der Schwester verrät: Knapp 50 Kinder infektionsfrei durch die Pandemie zu bringen, hat viel Kraft gekostet.

Bild: ©KNA/Andrea Krogmann

Laudy Fares, libanesische Vinzentinerinnenschwester, steht auf dem Gang im Waisenhaus in Bethlehem. Seit 1885 geben Ordensschwestern der "Töchter der Barmherzigkeit des heiligen Vinzenz von Paul" im Waisenhaus "La Creche" ("die Krippe") ungewollten Kindern in Bethlehem ein Zuhause.

Auf den Fluren der Creche merkt man von all diesen Sorgen und Nöten nichts. Kindgerechte Bilder an den Wänden; von den Decken baumeln Bastelarbeiten aus Papier. Entlang der Wand reihen sich Baby-Walker aus buntem Plastik wie Perlen an einer Schnur. Drinnen in den Zimmern dasselbe Bild von Ordnung: In Reih und Glied steht Schlafplatz neben Schlafplatz, Gitterbettchen bei den Kleinsten, Kinderbetten mit bunten Flauschdecken bei den Größeren, rosa für die Mädchen, blau für Jungs. Durch Jalousien gebrochen fallen Sonnenstrahlen in den Raum.

Chance auf Adoption? Fehlanzeige

Nur Kinderlärm sucht man zu dieser Stunde vergebens. Bis auf die Atemgeräusche ist es mucksmäuschenstill. "Mittagsschlafenszeit", lacht Laudy Fares. "Ohne Regeln wäre es hier schwer auszuhalten." Wenn die Kinder gerade nicht schlafen, bieten die Schwestern ihnen in Kindergarten und Vorschule ein pädagogisches Programm auf altersgerechtem Niveau. Immer im Sommer geht es für rund drei Wochen mit allen Schützlingen in ein Sommerlager nach Jericho; "dort kommen sie mal raus und genießen etwas Freiheit".

Eine Chance auf Adoption hat keines der Kinder der Creche. Die nämlich "ist im Islam verboten", wie die Libanesin erklärt. Manche kommen in Pflegefamilien unter. Die anderen müssen mit sechs Jahren ins SOS-Kinderdorf umziehen. Ein schwieriger Moment nicht nur für die Kleinen: "Wir hängen an den Kindern, folgen vielen von ihnen seit ihrem ersten Tag auf dieser Welt und möchten wissen, wie sie aufwachsen", sagt Schwester Laudy. "Sie gehen lassen zu müssen, ist hart. Auch den Kindern fällt der Abschied schwer; denn für sechs Jahre waren wir ihr Zuhause."

"Dies ist das einzige Haus, in dem ich mich geliebt gefühlt habe"

Wenn die Kinder der Creche volljährig werden, müssen sie auch aus dem Kinderdorf ausziehen. Viele von ihnen kommen dann zurück zu den Schwestern der Creche; "manche zu Besuch, aber wir haben auch ein paar, die heute bei uns arbeiten". Wann immer es geht, helfen die Schwestern den ehemaligen Heimkindern, etwa mit der Wohnung, die sie für zwei junge Erwachsene anmieten konnten.

Schwester Laudy erinnert sich an einen ehemaligen Zögling. "Sie kam als junge Frau zu Besuch und sagte: 'Dies ist das einzige Haus, in dem ich mich geliebt gefühlt habe.'" In Sätzen wie diesen liege die Hoffnung und gleichermaßen die Kraft für die schwierige Aufgabe. "Das ist es, was wir können und was wir den Kindern mitgeben wollen!"

Von Andrea Krogmann

Die Autorin

Andrea Krogmann ist Redakteurin der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).

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