An einer Brennpunkt-Schule erfuhren wir die Bedeutung von Weihnachten
7.45 Uhr. Wir drei, Sarah Dundovic (SD), Amelie Franz (AF) und Linda Thomas (LT), sind Lehramtsstudentinnen mit dem Fach Katholische Religion und befinden uns in diesem Semester jeden Freitagmorgen in der Schule, im sogenannten studienbegleitenden Praktikum. Heute unterrichten wir gemeinsam, also abwechselnd nacheinander. Wir treffen letzte Vorkehrungen. "Passt alles?", fragt Barbara Schwarz (BS), unsere Praktikumslehrerin. "Ja, die Technik läuft," entgegnen wir. "Guten Morgen Herr Riegger", begrüßen wir unseren Dozenten von der Uni, der gerade zur Klassenzimmertür hereinkommt. Er wird uns heute beobachten und anschließend beraten. Hoffentlich können wir bald loslegen.
"Unter der Dokumentenkamera liegen kleine Geschenke, Kaubonbons. Du darfst coronakonform nach vorne kommen, und dir eines nehmen." (AF) Ein Schüler springt sofort auf und rennt los. Ein andere mahnt ihn zur Vorsicht: "Alle bekommen ein‘s." Daraufhin verlangsamt er sein Tempo, doch werden die Schritte sehr ausladend. Ein Mädchen flüstert ihrer Nachbarin zu: "Wenn du keines willst, bring mir das braune mit, das mag ich am liebsten!" "Eine nach dem anderen holt sich ein Bonbon und bedanken sich bei mir. Das hätte ich nicht erwartet. Ich bin sehr angenehm überrascht von dieser katholischen Religionsklasse mit sechs Jungen und sieben Mädchen an der Kappellen-Mittelschule in Augsburg-Oberhausen, einer sogenannten Brennpunktschule. Nun haben die meisten ihre kleinen Geschenke verstaut, getauscht oder vor sich auf dem Tisch drapieren, ohne sie anzurühren, also mache ich weiter. "Vielleicht fiel euch auf, dass unter den Bonbons ein Bild liegt. Ich schiebe mal die restlichen Bonbons beiseite." "Das ist ein Kind, und dort Maria", sagt ein Schüler. Weitere Lernende beschreiben das Bild. "Das ist eine Weihnachtsdarstellung, wie man sie kennt." – "An was erkennst du das?", frage ich. "Die Engel mit den Flügeln, das Kind in der Mitte," erklärt jemand. "Was hat das Bild mit Geschenken zu tun?", frage ich. "An Weihnachten gibt es Geschenke", entgegnet ein Schüler. "Ja aber warum gerade an Weihnachten?" Hartnäckig frage ich weiter. Nach einer längeren Stille erkläre ich kurz: "Gott blieb nicht weit entfernt von uns Menschen im Himmel, sondern Gott kam zu uns auf die Erde, wurde Mensch, wie wir. Das ist für gläubige Christen ein Geschenk, über das sie sich freuten. Deshalb wurden irgendwann an Weihnachten Geschenke gemacht, um diese Freude anderen weiterzugeben."
"Das ist aber ein komisches Geschenk"
"Ich hörte, ihr habt in den einzelnen Klassen für die Johanniter-Weihnachtstrucker Geschenke gepackt. So wie dieses hier in der Mitte. Versammelt euch mal im Stehkreis darum." (SD) "Wer mag anfangen es auszupacken?" Ein Schüler nimmt sich ein Päckchen Zucker heraus, ein anderer Zahnpasta. "Das ist aber ein komisches Geschenk", sage ich. "Die sind arm. Aus Zucker kann man Kuchen backen, der schmeckt gut", ergänzt ein anderer. Es wird gefachgesimpelt, was man mit den einzelnen Produkten machen kann und wieso man sich an die Packliste der Johanniter halten sollte. Ein Schüler grinst und ergänzt: "Ich mag Schokolade, deshalb habe ich acht Tafeln in unser Packet gelegt, auch wenn das nicht auf der Packliste stand. Ich will, dass die sich an Weihnachten auch freuen können. Ich zeige nun drei schön verpackte Geschenke, und frage: "Wer will eines aufmachen?" Ein Junge reißt an der Verpackung, stoppt aber sogleich, denn sein Finger blutet, aber nur leicht, sodass er – mit einem Pflaster versehen – weiter aufpacken kann. Ich frage: "Ein teures Smartphone. Darüber würden wir uns freuen – oder?" "Ja schon, aber ein Handy bekomme ich, wenn meines kaputt ist, nicht zu Weihnachten." Die teuren Geschenke werden relativiert, und doch wollen manche wissen, ob da wirklich diese teuren Geschenke drin sind. Als ich verneine, sind manche enttäuscht. Ich beende meinen Part mit: "Ihr dürft wieder an eure Plätze."
"Habt ihr an eurem Platz schon den Stern entdeckt", frage ich (LT). "Schreibt doch mal einen Wunsch darauf, den man nicht mit Geld kaufen kann." Einzelne Lernende fragen präzisierend nach, manche nehmen sich einen zweiten Stern, andere beschriften beide Seiten. Nacheinander werden die Wunsch-Sterne vorgestellt und vorne unter die Dokumentenkamera gelegt: "Dass es Corona nie gegeben hätte." Ein Junge erläutert: "Für meine schon lange kranke dreijährige Schwester wünsche ich mir, dass es ihr bald besser geht." Ein geflüchteter Schüler: "Friede in unserer Heimat." Einige andere nicken zustimmen. Familie und Gesundheit werden immer wieder erwähnt. Die Stimmung wird nachdenklicher, fast bedrückend. Die letzte Schülerin legt ihren Stern, mit einem Herz verziert, auf und liest vor: "Omas leckeres Essen. Leider ist sie dieses Jahr gestorben. Ich mochte sie sehr." Es wird ganz still im Raum. Das Mädchen hat Tränen in den Augen und setzt sich wieder. Ihre Sitznachbarin legt ihr die Hand auf den Rücken. Bedrängende Stille.
„Wir sind in einem Brennpunktviertel gelandet, am Rand der Gesellschaft (Papst Franziskus) und erleben uns im Brennpunkt der Weihnacht.“
Ich (AF) stelle einen Stuhl vor die Tafel, setze mich und beginne: "Macht es euch bequem. Ich lese nun die Weihnachtsgeschichte vor." Als ich anfange, reden noch zwei Jungen leise miteinander. Doch bald sind auch sie still, vielleicht von der Stimmung im Raum ergriffen, vielleicht von der gut verstehbaren Kinderbibelübersetzung überrascht. Als ich ende, bleibt es für einige Augenblicke still, fast andächtig. Ich durchbreche diese Konzentration mit einem Weihnachtswunsch an alle. Als ich in den rückwärtigen Teil des Klassenraums gehe, sagt mir ein Schüler: "Das war eine tolle Stunde." Sehr erfreut merke ich, zusammen mit meinen Mitstudentinnen: Da hat der Funke der Weihnacht als Brennpunkt unsere Herzen entflammt.
Der Reli-Unterricht, der auch mal anders läuft
Beschwingt gingen wir drei in die Unterrichtsbesprechung, und hörten viele positive Rückmeldungen, Lob, erhielten weitere Anregungen. Frau Schwarz verdeutlicht: "Ich versuche alle Schülerinnen und Schüler – so wie sie sind – anzunehmen, ganz egal was ich von ihnen weiß oder schon gehört habe. Sie bekommen von mir Raum, um sich fallen zu lassen und die Schule – noch mehr als sonst – als 'safe-space' wahrzunehmen. Die Schülerinnen und Schüler nutzen das nicht aus. Im Gegenteil: Sie danken es auch mit Taten, indem sie sich anstrengen. In dieser Kapellenschule treffen unglaublich viele junge Menschen aus unterschiedlichen Ländern mit unterschiedlichen Kulturen, Bräuchen, Sprachen aufeinander. Und im Religionsunterricht verbindet uns vor allem eins: unser Glaube. Und der ist für mich eben nicht an Äußerlichkeiten gebunden. Es ist egal wie man aussieht, wie alt ich bin oder wo ich herkomme. Ich muss als Reli-Lehrerin offen sein, dann kann ich die Schülerinnen und Schüler erreichen. God is good!" Nach dem Praktikum standen wir drei noch zusammen, weil wir kaum begreifen konnten, was wir an diesem Vormittag erlebt hatten.
Auch Zuhause mussten wir von unseren Unterrichtserfahrungen erzählen. Meiner Mutter erzählte ich alles ausführlich (AF). Nachdem sie genau zugehört hatte, brachte sie es für mich auf den Punkt: 'Das ist doch ein schönes Beispiel dafür, dass der Reli-Unterricht auch anders laufen kann.'" Genau. Anders. Aber was war anders? Wir drei überlegen gemeinsam: Die Jugendlichen hatten Platz, Raum für ihre Erfahrungen, ihre Themen, die sie Gleichaltrigen manchmal nicht anvertrauen. War der soziale Aspekt, die Nächstenliebe, das Wichtigste? Nein, denn die lange zurückliegende Geburt Jesu wurde auch inhaltlich benannt, theologisch gedeutet, eingebracht, wohl auch von den Jugendlichen verstanden. Und dieser Kern wurde für sie, aber auch für uns selbst lebendig. Glaube wurde erlebbar. Und jetzt erst fällt uns auf: Das lebt uns Frau Schwarz vor, ohne langen Rock, ausgeleierter Strickjacke oder Gitarre, sondern mit langen, roten Fingernägeln, moderne Kleidung und Freude am Leben. Cool, würden die Schüler und Schülerinnen sagen. Dieser Religionsunterricht energetisiert, verleiht sogar Flügel, Engelsflügel, wie auf dem beschriebenen Weihnachtsbild. Erstaunt halten wir fest: Wir sind in einem Brennpunktviertel gelandet, am Rand der Gesellschaft (Papst Franziskus) und erleben uns im Brennpunkt der Weihnacht.
Die Autorinnen und Autoren
Sarah Dundovic studiert Lehramt Mittelschule an der Universität Augsburg mit den Fächern Deutsch/Didaktik des Deutschen als Zweitsprache/Katholische Religionslehre/Mathematik.
Amelie Franz studiert Lehramt Mittelschule an der Universität Augsburg mit den Fächern Katholische Religionslehre/Geographie/Musik/Deutsch.
Linda Thomas studiert Lehramt Mittelschule an der Universität Augsburg mit den Fächern Deutsch/Geschichte/Katholische Religionslehre/Sozialkunde.
Barbara Schwarz ist Mittelschullehrerin und Praktikumslehrerin an der Kapellenschule in Augsburg-Oberhausen.
Manfred Riegger ist Professor und Akademischer Oberrat am Lehrstuhl für Didaktik des Kath. Religionsunterrichts und Religionspädagogik an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Augsburg.