Welche Kirche braucht die Kirche?
Es gibt Räume mit einer besonderen Aura. Wer die (lutherische) Dresdner Frauenkirche, den (römisch-katholischen) Kölner Dom oder eine einfache, weiß getünchte (reformierte) Dorfkirche betritt, kann es spüren. Kirchliche Räume haben – meist – eine besondere Atmosphäre. Menschen nehmen diese – selbstverständlich individuell verschieden – wahr. Maßgeblich sind unter anderem die eigene konfessionelle und regionale Prägung, der individuelle ästhetische Geschmack und die tagesaktuelle Stimmung. Viele sehnen sich nach besonderen Orten und Räumen, wo sie ihre persönliche Beziehung zu Gott ganz bewusst erleben können. Sei es allein in einer Kapelle, zum Beispiel in der Bruder-Klaus-Feldkapelle bei Mechernich, der Autobahnkapelle Siegerland oder der Weidenkirche in Rödermark. Sei es in einem Raum der Stille, zum Beispiel in einem Krankenhaus oder auf einem Flughafen.
Wohnung oder Wirkaum Gottes?
Im Roman "Nachtzug nach Lissabon" wird der Kirchenraum als Gegenstück zur säkularen Welt dargestellt.
"Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben. Ich brauche ihre Schönheit und Erhabenheit. Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt. Ich will zu leuchtenden Kirchenfenstern hinaufsehen und mich blenden lassen von den unirdischen Farben. Ich brauche ihren Glanz. Ich brauche ihn gegen die schmutzige Einheitsfarbe der Uniformen. Ich will mich einhüllen lassen von der herben Kühle der Kirchen. Ich brauche ihr gebieterisches Schweigen. Ich brauche es gegen das geistlose Gebrüll des Kasernenhofs und das geistreiche Geschwätz der Mitläufer. Ich will den rauschenden Klang der Orgel hören, diese Überschwemmung von überirdischen Tönen. Ich brauche ihn gegen die schrille Lächerlichkeit der Marschmusik. Ich respektiere betende Menschen. Ich brauche ihren Anblick. Ich brauche ihn gegen das tückische Gift des Oberflächlichen und Gedankenlosen. Ich will die mächtigen Worte der Bibel lesen. Ich brauche die unwirkliche Kraft ihrer Poesie. Ich brauche sie gegen die Verwahrlosung der Sprache und die Diktatur der Parolen. Eine Welt ohne diese Dinge wäre eine Welt, in der ich nicht leben möchte." (Amadeu im Roman "Nachtzug nach Lissabon" von Pascal Mercier, München, 2006, 198)
Dahinter steckt eine theologische Grundsatzentscheidung: Es gibt Orte und Räume, die Gott und dem Gottesdienst vorbehalten sind. Damit sind andere Nutzungen mehr oder minder ausgeschlossen. Diese Räume werden meist in einem besonderen Gottesdienst "geweiht" oder "gewidmet". Sie können auf die biblische Idee des Tempels als Wohnung Gottes zurückgeführt werden (1 Kön 8,13) und finden sich in lutherischen, römisch-katholischen, orthodoxen und anderen christlichen Kirchen. Genauso legitim ist die theologische Haltung: Gott "wohnt" überall. Sein Heiliger Geist weht, wo er will (Joh 3,8). Folglich können auch Gottesdienste grundsätzlich überall gefeiert werden. Solche Räume werden "in Dienst genommen", meist nur für die Dauer der liturgischen Feier. Anschließend können andere Nutzungen stattfinden. Hier stand die Synagoge Pate. Dieses Kirchenraumverständnis ist vor allem für reformierte Kirchen prägend. In beiden evangelischen Konfessionen entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine bauliche Sonderform, die bewusst auf sakrale Attribute verzichtet: das Gemeindezentrum. In Bauform, Materialwahl und Ausstattung an seine Umgebung angeglichen, soll es eine niederschwellige Verbindung schaffen zwischen Kirche und Welt. Es versteht sich ausdrücklich als Teil der Welt, gerade auch um in jene im Sinne des Evangeliums hineinzuwirken.
Multifunktionale Gemeindehäuser sind meist nicht Ausdruck mangelnder Gestaltungskraft oder fehlender finanzieller Mittel, sondern verkörpern eine ethische Haltung. Amadeu nennt fünf Aspekte, die für ihn eine Kathedrale, also einen Raum Gottes, auszeichnen: Ästhetik (Schönheit und Erhabenheit), Licht (Glanz und Vielfarbigkeit leuchtender Kirchenfenster), Stille (herbe Kühle und gebieterisches Schweigen), Musik (Klangrausch der Orgel und überirdische Töne), Gottesdienst (betende Menschen und biblische Worte). Die Kirchbaugeschichte zeigt eine wunderbare Vielfalt, wie diese Aspekte in Baukunst umgesetzt wurden, regional und zeitlich, konfessionell und funktional verschieden. Die ersten Gottesdienste fanden in Privathäusern statt. Während Verfolgungen traf sich die Gemeinde in Verstecken, zum Beispiel Katakomben. Mit zunehmender Gemeindegröße wich man in Versammlungsgebäude aus, zu Beispiel Markthallen (Basiliken). Dieser längs gerichtete Bautyp wurde für die lateinische Kirche (Rom) prägend. In der griechischen Kirche (Byzanz) dominiert der Zentralbau, welcher in der römischen Kirche vor allem bei Tauf- und Grabeskirchen verwendet wurde. Misch- und Sonderformen sind nicht selten: Die Hagia Sophia in Konstantinopel ist sowohl Lang- als auch Zentralbau.
Linktipp: Mehr als ein Liturgieort: Welches Potenzial in Kirchenräumen steckt
Wie soll die Kirche angesichts von Transformationsprozessen mit ihren Gottesdiensträumen umgehen? Im katholisch.de-Interview schlägt der Liturgiewissenschaftler Albert Gerhards vor, ihnen je nach Eignung ein besonderes Profil zu geben – und plädiert für mehr Kreativität bei der Nutzung.
Das Oktogon der Aachener Pfalzkapelle verbindet den Kreis der göttlichen Sphäre mit dem Quadrat der Welt. In Äthiopien wurden kreuzförmige Kirchen in den Boden gegraben. Bautechnische Innovationen, neue Materialien, finanzielle und politische Rahmenbedingungen und nicht zuletzt die Ambitionen einzelner Personen ermöglichen bis heute immer wieder neuartige Kirchenbauten. Gewölbetechniken, komplexere Dachstühle und das Ausreizen des statisch Machbaren ermöglichten die Dome der Romanik und Gotik. Die Theologie fand nachträglich stimmige Deutungen, zum Beispiel "Abbild des himmlischen Jerusalem", "göttliches Licht", oder sah die Ostung des Bauwerks als "Symbolisierung der Auferstehung Jesu Christi im Licht der Morgensonne".
Räume als Antwort auf die Theologie
Veränderungen der gottesdienstlichen Liturgie führten zu Um- und Neubauten. Es entstand zum Beispiel. ein abgestufter Weg vom Außenraum der Tauf-Interessenten (Vorhof, Paradies) über den Versammlungsort für Gebet und Predigt (Langhaus) bis zum Raum für die Eucharistie bzw. das Abendmahl (Apsis, Chor). War Letzteres nur Auserwählten gestattet, wurde diese Trennung auch baulich verdeutlicht, zum Beispiel durch einen Vorhang im armenischen Kirchenbau und später durch Lettner und Chorschranken oder in der Orthodoxie durch eine Wand (Ikonostase). Im Mittelalter wuchs – besonders in manchen Gemeinschaften – die Bedeutung der Predigt in der Landessprache ("Predigerorden"), meist im Zuge von Missionsbestrebungen, aber auch aufgrund politischer oder finanzieller Ambitionen.
Im Langhaus der Kirchen, dem Versammlungsbereich der Gemeinde, wurde ein Ort für die Kanzel gefunden, von dem der Prediger am besten verstanden werden konnte. Das war meist an einem der vorderen Pfeiler. Luther schätzte ebenfalls die Verkündigung des Wortes Gottes: So kommt der Glaube aus der Predigt (Röm 10,17). Das wurde zur Grundlage für die Bedeutung der Kanzel und mancherorts des Kanzelaltars im protestantischen Kirchenbau. Da auch die Länge der Predigten zunahm, kamen Sitzmöglichkeiten hinzu, die Kirchenbänke. Mitunter waren diese quer zum Langhaus auf die Kanzel ausgerichtet, selten auch klappbar, sodass die Gläubigen im weiteren Gottesdienstverlauf auch zum Chorraum blicken konnten. Gleichzeitig wurde das Abendmahl in beiderlei Gestalt (Brot und Wein) an alle Getauften ausgeteilt. Später kam die Konfirmation als weiteres Zulassungskriterium hinzu. Dementsprechend verändert sich das Bildprogramm der Altäre: Statt der bisherigen oft anzutreffenden Heiligenfiguren gelangten das Abendmahl und Christusdarstellungen ins Zentrum.
Das Taufbecken wurde vom Eingang der Kirche häufig direkt vor den Altar verlegt. Um die Frage nach bildlichen Darstellungen – vor allem des dreieinigen Gottes – wurde heftig gerungen ("Bildersturm"). Während Luther argumentierte, Bilder seien aus didaktischen Gründen erlaubt, entschieden sich die Reformierten (Zwingli, Calvin u. a.) mit Verweis auf das Bilderverbot des Dekalogs (Ex 20,4), auf bildliche Darstellungen im Kirchenraum konsequent zu verzichten. Ähnliches findet sich im Judentum und Islam. Somit wurden auch Kruzifixe und vieles weitere, was ablenken könnte, entfernt, zum Beispiel Kerzen, Weihrauch oder eine farbige Ausgestaltung. Ein meist frei im Raum platzierter Abendmahlstisch ersetzte den (Hoch-)Altar. Bei Bedarf wurden Emporen eingezogen. Die römische Kirche reagierte mit einer Gegenbewegung, der barocken Inszenierung der heiligen Messe. In prachtvoller Farb- und Formenvielfalt wurde versucht, das himmlische Jerusalem abzubilden. Während für Luther ein Gottesdienst auch "draußen beim Brunnen", im Schweinestall oder auf den Elbwiesen (vgl. seine Torgauer Kirchweihpredigt) gefeiert werden konnte, band die römische Kirche in der Regel die Eucharistiefeier an einen "geweihten" Ort mit einem Altar, in dem durch eine Reliquie eine Verbindung zum Göttlichen symbolisiert wird. Dementsprechend wird auch bei der Aufgabe einer katholischen Kirche eine besondere Liturgie zur "Entweihung" (Profanisierung) durchgeführt. Reformierte Gottesdiensträume dagegen werden "in und außer Dienst" genommen. Vor und nach dem Gottesdienst sind andere Nutzungen möglich. Lutherische Kirchen nehmen eine vermittelnde Position ein, sie werden mitunter "ge- und entwidmet".
Moderne Architektur
Spätestens seit der Liturgiereform in der römischen Kirche zu Beginn des 20. Jahrhunderts und durch die aufkommende Architektur der Moderne glichen sich katholische Neubauten immer mehr protestantischen Kirchenräumen an (Beispiel: Fronleichnam-Kirche Aachen). Doch auch schon zuvor gab es Kirchen, die gängige konfessionelle Attribute nicht erfüllten (Beispiel: Berliner Dom, Dresdner Frauenkirche) Dem gegenwärtigen Trend zur Fokussierung auf das Wesentliche (Minimalismus) entsprechend, entstehen derzeit gerade im deutschsprachigen Bereich meist Kirchengebäude, die erst auf den zweiten Blick ihre jeweilige konfessionelle Prägung zeigen oder sogar einzelne ökumenisch gemischt genutzte Räume bieten (Beispiel: Taufbereich in der ökumenischen Maria- Magdalena-Kirche Freiburg-Rieselfeld). Jüngste katholische Neu- und Umbauen bestechen oft durch klare, helle, skulpturale Innenräume, die evangelische Herzen höher schlagen lassen. Die reformatorische Überzeugung "allein Christus" ist räumlich beeindruckend in der von John Pawson umgestalteten Moritzkirche in Augsburg erlebbar: Aus dem Chorbereich kommt die Figur eines Christus Salvator den Gläubigen entgegen.
Dass sich weltliche und sakrale Architektur seit jeher gegenseitig befruchten, zeigt zum Beispiel der Stuttgarter Hauptbahnhof. Sein Architekt, Paul Bonatz, war durch die Sultan-Hassan-Moschee in Kairo inspiriert. Der Bahnhof selbst erinnert mit seinem Turm an eine Kirche und beeinflusste Kirchenneubauten nach dem Krieg. Überkonfessionelle, interreligiöse bzw. spirituelle Räume folgen derzeit meist dem Ideal eines oft weißen, minimalistischen und dadurch ruhigen Raumes. Dementsprechend hat sich die Bezeichnung "Raum der Stille" oft durchgesetzt (Beispiel: Campus Westend der Universität Frankfurt/Main).
Nimmt der gegenwärtige Kirchenbau die wünschenswerte engere Kooperation der Konfessionen und Religionen bereits vorweg? So unverwechselbar wie jeder Mensch ist, so individuell und ortsspezifisch sollten Gottesdiensträume die Vielfalt der Kirchen und Religionen widerspiegeln, denn Jesus Christus sagt: In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen (Joh 14,2). Dann können an unterschiedlichen Orten ganz eigenständige, "andere" und heilige Räume mit besonderer Aura entstehen, also Kirchenräume, wie die Kirchen sie immer brauchen werden. Kleine und Große, denn auch ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben.
Der Autor
Sven Sabary ist evangelischer Theologe und Architekt.
Hinweis: Zeitschrift "Welt und Umwelt der Bibel"
Der Artikel erscheint im Heft 1/2022 der Zeitschrift "Welt und Umwelt der Bibel" des katholischen Bibelwerks. In der Ausgabe geht es um "Heilige Räume". Voraussichtlicher Veröffentlichungstermin ist der 21. Januar 2022.