Gegen den weißen Tod: Vor 75 Jahren erlaubt ein Kardinal das Fringsen
Es ist nur ein Satz in einer Predigt. "Der Einzelne darf in der Not das nehmen, was er zur Erhaltung des Lebens und der Gesundheit notwendig hat, wenn er es nicht erarbeiten oder erbitten kann", sagt der Kölner Erzbischof, Kardinal Josef Frings, laut Predigttext an Silvester 1946 in der Kirche St. Engelbert im Kölner Stadtteil Riehl.
Am Ende des Jahres 1946 ist es bitterkalt, seit Wochen schon. Es ist einer der kältesten Winter des 20. Jahrhunderts. Kohle zum Heizen ist nur schwer zu bekommen, Essen ist knapp. Für fromme Katholiken ist der Satz des Erzbischofs eine Erlösung für ihr Gewissen: Klauen ist erlaubt, wenn die Not groß ist.
Menschen springen auf Güterzüge
Und die Not ist groß. Um beispielsweise an Kohle zu kommen, springen Menschen auf stehende oder langsam fahrende Güterzüge auf, die den Brennstoff transportieren, klauben sich die Taschen voll und springen wieder ab. "Fringsen" wird nach der Silvesterpredigt des Kardinals zu einem geflügelten Wort dafür.
Für große Teile der deutschen Bevölkerung ist nicht das Kriegsende die Zeit des größten Mangels, sondern der sogenannte Hungerwinter 1946/47. Den "weißen Tod" nennen die Deutschen ihn. Er ist auch eine Folge des Krieges, mit dem die Nazis Europa überzogen haben.
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Als am 8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg in Europa endete, lag Deutschland materiell und moralisch in Trümmern. Die katholischen Bischöfe wurden Ansprechpartner der Besatzer und Fürsprecher der Bevölkerung. Doch sie räumten bald ein, dass auch Glieder der Kirche während des Kriegs versagt hatten.
"Die Versorgung hat unter den Nazis noch bis zum Schluss ganz ordentlich funktioniert", erläutert der Frankfurter Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe. "Das war eine Folge der Raubzüge in ganz Europa, bei denen sie Nahrung nach Deutschland geschafft haben." Ein Jahr nach Kriegsende aber sind alle Ressourcen aufgebraucht. Konnte 1945 jeder Deutsche im Schnitt noch gut 2.000 Kalorien täglich zu sich nehmen, waren es im Winter des folgenden Jahres nur noch knapp 1.500, in der französischen Besatzungszone waren es sogar durchschnittlich nur rund 1.200 Kalorien. In den Großstädten mussten die Menschen mit weitaus weniger auskommen.
Im "Hungerwinter" sterben in Deutschland unzählige Menschen an Unterernährung oder Unterkühlung, Schätzungen zufolge waren es Hunderttausende. Eine genaue Bezifferung der Opferzahl ist äußerst schwierig, was an der Zuordnung von Todesursachen liegt. Ob ein Mensch an Hunger oder daraus resultierenden Krankheiten gestorben ist, ist im Nachhinein nahezu unmöglich zu sagen.
Eine Katastrophe mit mehreren Gründen
Mehrere Gründe lösen gemeinsam diese Katastrophe aus. Erstens: Deutschland hat nach dem verlorenen Angriffskrieg rund ein Viertel seiner Agrarfläche im Osten verloren. Gleichzeitig wurden rund zwölf Millionen Vertriebene aufgenommen.
Zweitens: Es mangelt an Kohle. Die Förderanlagen in den Bergwerken sind veraltet. Weil viele Kumpels an die Front mussten, dort starben oder in Kriegsgefangenschaft gerieten, fehlen nun erfahrene Bergleute. Das Wenige an Kohle, das aus den Gruben kommt, steht unter der Kontrolle der Alliierten, die einen – wenn auch kleinen – Teil davon auf dem Weltmarkt verkaufen
Drittens: Für Geld gibt es fast nichts zu kaufen. Die Nazis hatten den Krieg per Notenpresse finanziert, bei Kriegsende sind rund 300 Milliarden Reichsmark im Umlauf. Für diese Geldmenge gibt es so gut wie kein Warenangebot. Die Inflation macht das Geld wertlos, Zigaretten werden zur wichtigsten Währung auf dem Schwarzmarkt. Die Deutschen tauschen Tabak, aber auch Pelzmäntel oder Tafelsilber gegen Kartoffeln, Mehl oder Butter ein.
Viertens: Das, was an Essen und Heizmaterial da ist, kann nur schwer verteilt werden, weil das Verkehrssystem zusammengebrochen ist. Der Krieg hat die Infrastruktur zerstört. Alliierte Bomber hatten Schienen, Straßen und Bahnhöfe zerbombt, die Wehrmacht hatte auf ihrem Rückzug Brücken gesprengt. Ab Januar 1947 frieren auch die Flüsse und Kanäle zu, es ist ein arktisch kalter Winter.
"Zonen konzentrierten Hungers"
Dieser letzte Punkt ist nach den Worten des Forschers Plumpe der entscheidende Faktor, der eine schwierige Versorgungslage zur Katastrophe macht. "Es gab Gegenden mit noch recht guter Lebensmittelversorgung", sagt er, "aber durch die mangelnde Verteilung wegen des nicht funktionierenden Transportsystems entstanden Zonen konzentrierten Hungers, beispielsweise das Ruhrgebiet."
Etwas revolutionär Neues habe Erzbischof Frings mit der Absegnung von Mundraub in seiner Predigt gar nicht verkündet, erklärt Ulrich Helbach, Leiter des Historischen Archivs des Erzbistums Köln. "Frings hat im Grunde nur das wiedergegeben, was katholische Moralvorstellung war", sagt er. "Er hat aber gar nicht theologisch argumentiert, sondern sozial."
Dass Frings' Predigt auf das Verhalten der Menschen einen großen Einfluss hatte, bezweifelt der Frankfurter Forscher Plumpe. Mundraub und Kohlenklau seien zuvor schon sehr verbreitet gewesen, die Predigt habe dazu kaum etwas beigetragen. "Das Fringsen war eine moralische Freisprechung", sagt Plumpe, "es hat lediglich eine verbreitete Praxis aus der Kritik genommen."