Münchner Gutachten: Eine moralische Bankrotterklärung der Kirche
Gibt es einen zentralen Satz im Zusammenhang mit der Vorstellung des Gutachtens der Kanzlei Westpfahl – Spilker – Wastl über sexualisierte Gewalt im Erzbistum München und Freising? Kann es den überhaupt geben, bei einer fast 1900 Seiten starken Ausarbeitung und quantitativ wie qualitativ nahezu unfassbarer Informationsfülle?
Ja, es gibt ihn, diesen einen, wesentlichen Satz. Er stammt von Rechtsanwalt Dr. Wastl, in der Pressekonferenz zur Vorstellung des Gutachtens: "Bis 2010 wurde auf die Opfer keine Rücksicht genommen … Wieviel Gutachtenstudien braucht das Land denn noch, um sich dieser Erkenntnis zu stellen?"
Als Opfer sexualisierter Gewalt und engagierter Katholik mit jahrzehntelanger Gremienerfahrung im deutschen Verbandskatholizismus beschäftigt mich das Thema Missbrauch seit über 40 Jahren. Das Münchener Gutachten hat, bezogen auf die systemischen Ursachen der Taten und die Vertuschungs-Mechanismen, keinerlei substantielle Erkenntniserweiterung gebracht. Eine Tatsache, die in Anbetracht der bisher ins Land gegangenen Zeit, zumindest den am Thema Interessierten nicht verwundern muss. Zahlreiche Studien kommen, im Übrigen völlig unabhängig vom methodischen Ansatz, zu den gleichen Analyseergebnissen und Schlussfolgerungen. Und auch die in diesem Jahr zu erwartenden Veröffentlichungen der Studien aus den Bistümern Münster, Paderborn und Essen werden keine substantiell neuen Erkenntnisse zu sexualisierter Gewalt, Missbrauch und Vertuschung in der Kirche bringen.
Verantwortungslosigkeit auf diversen Hierarchieebenen
Ungeachtet dessen führt aber das Gutachten in einer detailreichen Darstellung des Schreckens unmissverständlich vor Augen, was nicht nur durch Zahlen deutlich wird: Die Verantwortungslosigkeit, die die diversen Hierarchieebenen im Erzbistum München und Freising bei einer Vielzahl von Fällen an den Tag legten. Die bis heute andauernde, unfassbare Empathielosigkeit den Opfern und Überlebenden der sexuellen Gewalt gegenüber. Die Unfähigkeit, eigene und persönliche Verantwortung anzuerkennen und zu übernehmen.
Auch das ist sicherlich keine neue Erkenntnis, die sich nur aus diesem Gutachten ergibt. So entschuldigte sich der Erzbischof von Hamburg für die Fehler des Systems, nicht für seine persönlichen Verfehlungen. Also auch an dieser Stelle keine Neuigkeiten? Von besonderer Bedeutung ist sicherlich, dass eben nicht nur die Hierarchieebenen der deutschen Ortskirche im Fokus stehen. Im Zentrum der Kritik steht insbesondere der ehemalige Präfekt der Glaubenskongregation, also die Spitze der obersten Aufklärungsbehörde in der Weltkirche, und spätere Papst Benedikt – und damit die höchstmögliche Hierarchieebene. Das an sich sensibilisiert natürlich besonders und macht die Münchener Studie zu einem besonderen Dokument.
Die vom ehemaligen Papst eingebrachten Verteidigungsargumente lassen aber nicht nur die Betroffenen sexueller Gewalt, sondern viele Mitglieder der katholischen Kirche nahezu ratlos und wütend zurück: Da relativiert das emeritierte Kirchenoberhaupt sexuelle Straftaten, da wird Mitwisserschaft weiterhin abgestritten, obwohl mehr als deutlich wird, dass Benedikt Kenntnis von den Vorgängen gehabt haben müsste, da wird die Übernahme persönlicher Verantwortung zurückgewiesen. Aber auch das ist, wenn man es ehrlich und nüchtern betrachtet, nichts wirklich Neues, blendet man ein wenig aus, dass es sich hier eben um eine der exponiertesten Persönlichkeiten einer Institution handelt, die sich absolut der Wahrheit verpflichtet sieht. Diese Geschichten rund um Verantwortungsdiffusion und Fehlerübertragung kennen wir, zum Beispiel aus Köln, aus Hamburg, und nun auch aus München, wo sich am Donnerstag der amtierende Erzbischof von München und Freising "als Erzbischof von München und Freising mitverantwortlich für die Institution Kirche in den letzten Jahrzehnten" fühlt .
Veränderte Haltung bei Bistumsverantwortlichen? Nein!
Besonders erschreckend ist aber die Aussage der Gutachterin Dr. Westpfahl auf die Frage, ob diese in der Zeit vom ersten zum zweiten Gutachten, also von 2010 bis 2021, eine veränderte Haltung bei wenigstens einem Beteiligten auf Seiten der Bistumsverantwortlichen wahrgenommen hätte. Die Antwort lautete: Nein!
„Der wirkliche Skandal besteht doch darin, dass – nach über mehr als ein Jahrzehnt lang geführten Diskussionen um Missbrauch und seine Prävention – transparent wird, dass Verantwortungsträger bis heute nicht begriffen haben, was sexualisierte Gewalt bei den Opfern und deren Angehörigen anrichtet, aber auch, was diese Krise für den Fortbestand der Kirche in dieser Zeit bedeutet.“
Und genau hier und an dieser Stelle wird die aktuelle Brisanz deutlich. Die liegt eben nicht in der Benennung eines alten Mannes und seinem Festhalten an Lügengebäuden. Sie liegt in der Tatsache, dass 12 Jahre nach der ersten großen Welle im Missbrauchsskandal keine Bewusstseinsänderung, keine Weiterentwicklung der inneren Haltung im Erzbistum und darüber hinaus festzustellen ist. Der wirkliche Skandal besteht doch darin, dass – nach über mehr als ein Jahrzehnt lang geführten Diskussionen um Missbrauch und seine Prävention – transparent wird, dass Verantwortungsträger bis heute nicht begriffen haben, was sexualisierte Gewalt bei den Opfern und deren Angehörigen anrichtet, aber auch, was diese Krise für den Fortbestand der Kirche in dieser Zeit bedeutet. Es steht vordergründig immer noch der unbedingte Schutz der Organisation im Fokus. Fehler sind maximal bedauerliche Unzulänglichkeiten des Systems, aber nie Ausdruck persönlicher Verantwortung.
Aber das Ergebnis dieser an Perversion grenzenden Gedankenwelt ist doch genau das Gegenteil: Es ist die moralische Bankrotterklärung einer Kirche, die hinter prunkvollen Gewändern und barocken Altären versucht, die hässliche Fratze des Missbrauchs zu verstecken. Es ist zu hoffen, dass mit der großen, den im Fokus stehenden Persönlichkeiten geschuldeten Öffentlichkeit die Antwort auf die Eingangsfrage endlich lautet: Auch ohne weitere Gutachten – wir haben es begriffen!
Nicht nur wortreiche Resolutionen, sondern mutige Entscheidungen
In den kommenden Tagen und Wochen haben wesentliche Akteure in der katholischen Kirche in Deutschland genau dazu die Möglichkeit: Der Ständige Rat der Deutschen Bischofskonferenz, der Hauptausschuss des Zentralkomitees der Katholiken und die 3. Synodalversammlung. Alle diese Gremien und Organe sind in der Verantwortung und in der Lage, ihr Begreifen zum Ausdruck zu bringen. Nicht nur in wortreichen Resolutionen und Stellungnahmen, sondern in mutigen Entscheidungen.
So können die Bischöfe auf den eigenen Betroffenenbeirat hören und die bereits bekannten Vorschläge zum Anerkennungssystem zeitnah umsetzen, das ZdK die Aufarbeitung unter dem besonderen Blickwinkel der Gemeinden in den Fokus nehmen, sich die Synodalversammlung als Verantwortungsgemeinschaft verstehen und anstehende Entscheidungen zu Macht und Gewaltenteilung als Basis für eine synodale Kirche beschließen.
Will diese Kirche nicht noch nach dem Offenbarungseid des ehemaligen Papstes den allerletzten und verbliebenen Rest ihrer Glaubwürdigkeit verlieren, dann entscheiden die Verantwortlichen jetzt und sehr mutig. Tun sie das nicht, dann entscheiden halt viele der noch verbliebenen Gläubigen: Nicht mutig, sondern radikaler und schneller und entschlossener, als jemals ein kirchlicher Leitungsverantwortlicher in der Lage gewesen wäre, Straftaten zu vertuschen oder deren Verfolgung zu vereiteln. Die Zeit des Versteckens hinter Institutionen und Systemen, hinter Gutachten, Studien und Analysen, ist vorbei – jetzt ist die Zeit zu handeln!
Der Autor
Johannes Norpoth, Jahrgang 1967, ist Betroffener sexualisierter Gewalt im Kontext seiner ehemaligen Heimatgemeinde in Essen. Er ist Mitglied im Betroffenenbeirat bei der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), aktuell sein Sprecher und seit April 2021 Einzelpersönlichkeit im Zentralkomitee der Katholiken (ZdK).