Irritierende Verse in der Heiligen Schrift

Das Kamel und das Nadelöhr: Schwierige Bibelstellen und ihre Deutung

Veröffentlicht am 29.01.2022 um 12:24 Uhr – Lesedauer: 

Bonn  ‐ Kommen Reiche nicht in den Himmel? Erlaubt Gott Vergeltung? Und belohnt er faule Menschen? Manche Bibelstellen sorgen seit jeher für Missverständnisse und lassen auch heute noch manchen Leser ratlos zurück. Ein Blick auf "irritierende" Verse und wie man sie deuten kann.

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Manche Bibelstellen sind eine Herausforderung. Nicht, weil sie besonders schwer zu verstehen wären, sondern weil ihre Aussagen auf den ersten Blick so gar nicht zu dem Bild eines gerechten Gottes zu passen scheinen. Das ging auch schon früheren Generationen von Lesern der Heiligen Schrift so. Eine kleine Auswahl entsprechender Verse anlässlich des ökumenischen Bibelsonntags in Deutschland.

"Auge für Auge, Zahn für Zahn" (Ex 21,24)

Erlaubt Gott, bei Schaden Rache zu nehmen? Die Formel "Auge für Auge, Zahn für Zahn" ist eine der missverständlichsten der Bibel. Sie wird bis heute verwendet, um ein für das Alte Testament angeblich charakteristisches Vergeltungsprinzip zu konstruieren – mit fatalen antijüdischen Implikationen. In der christlichen Rezeption wurde die Stelle oft als "Auge um Auge, Zahn um Zahn" übersetzt und als Talionsformel (von lateinisch talio, "Vergeltung") aufgefasst, die das Opfer oder seine Vertreter auffordere, dem Täter Gleiches mit Gleichem "heimzuzahlen" beziehungsweise sein Vergehen zu sühnen.

Allerdings widersprechen der biblische Kontext und die jüdische Tradition dieser Auslegung. Denn die Formel stammt aus dem Ersatzrecht und ist als Prinzip des angemessenen Ausgleichs für Körperverletzungen zu verstehen. Sie zielt nicht auf eine Schädigung des Schädigers, sondern auf Entschädigung des Geschädigten. Sie stellt also ein Bemessungsprinzip dar, das auf eine gleichwertige Ersatzleistung, nicht auf einen gleichartigen Schaden abzielt. Heutzutage würde man das Schadensersetz nennen.

Bild: ©picture alliance / Uta Poss (Symbolbild)

Manche Bibelstellen sind Provokation. Damit setzten sich schon frühere Generationen von Lesern ausenander.

"Der Herr gibt es den Seinen im Schlaf" (Ps 127,2)

Werden Menschen, die faul sind, von Gott bevorzugt? Eine berühmte Stelle aus Psalm 127 scheint das zu belegen: "Es ist umsonst, dass ihr früh aufsteht und euch spät erst niedersetzt, um das Brot der Mühsal zu essen; denn der Herr gibt es den Seinen im Schlaf." Erfahrungen aus dem Alltag verleiten einen manchmal dazu, das zu glauben: Einerseits gibt es Menschen, die ständig ackern, aber auf keinen grünen Zweig kommen. Anderen dagegen scheint alles zuzufallen. Ihnen gelingt alles, manchmal wirkt ihr Erfolg gar unverdient.

Wie ist der Satz in den Kontext des Psalms eingebettet? Bei dem Psalm handelt es sich um ein Wallfahrtslied. Die Pilger haben es gebetet, wenn sie zum Tempel hinaufgezogen sind, dem prächtigen Bauwerk, das einst König Salomo errichten ließ. "Wenn nicht der Herr das Haus baut, mühen sich umsonst, die daran bauen", heißt es am Beginn des Psalms. Damit wird das, was der Mensch erreichen kann, relativiert. Sein Wille oder seine Macht können noch so groß sein. Aber nur wenn das menschliche Tun und seine Mühen mit Gott verbunden sind, kann es letztlich Erfolg haben. Dann gibt es der Herr den Seinen im Schlaf. Oder anders gesagt: Alle Mühe ist vergebens, wenn nicht Gottes Segen dabei ist.

"Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr…" (Mk 10,25)

Es ist eine radikale Aussage Jesu: Die Behauptung, ein Kamel käme immer noch leichter durch ein Nadelöhr, als ein Reicher in den Himmel. Man findet den Satz in drei der vier Evangelien (Mk 10,25, Mt 19,24, Lk 18,25), jeweils etwas unterschiedlich eingebunden. Die Schärfe der Aussage irittiert seit jeher. Daher suchte man nach möglichen anderen Bedeutungen der Worte "Kamel" und "Nadelöhr". So schreibt etwa Kyrillos von Alexandria, in der Seemannssprache bezeichne "Kamel" ein dickes Seil. Und ab dem 10. Jahrhundert taucht in einigen neutestamentlichen Handschriften die Lesart "kamilos" auf, für die die Übersetzung "Schiffstau" verzeichnet wurde. Andere Kommentatoren interpretierten das Nadelöhr als ein kleines Nebentor in der Stadtmauer Jerusalems, durch das Kamele sich nur mühsam hindurchzwängen konnten. So würde aus dem Unmöglichen eine zwar schwierige, aber prinzipiell lösbare Aufgabe. Doch Exegeten halten beide Varianten nicht für wissenschaftlich haltbar.

Dass der Satz auch genau so gemeint ist, lässt schon Reaktion der Jünger im Text erkennen. Sie fragen: "Wer kann dann noch gerettet werden?" Darauf sagt Jesus den entscheidenden Satz: "Für Menschen ist das unmöglich, aber nicht für Gott; denn für Gott ist alles möglich." Zwar macht Reichtum es unmöglich, in idealer Weise Jesus nachzufolgen. Denn dieser fordert diejenigen, die ihm nachfolgen wollen, auf, alles zurückzulassen – auch ihren Besitz. Aber ob ein Leben zum Reich Gottes führt, hängt nicht allein vom Menschen ab, sondern entscheidend von Gott. Der provozierende Satz vom Kamel enthält also keine Handlungsanweisung für den sicheren Weg in den Himmel, sondern soll aufrütteln. Denn das Reich Gottes wird von Gott bewirkt und den Menschen unverdient geschenkt.

Von Matthias Altmann