Theologe Lob-Hüdepohl: Sexualmoral muss Wissenschaft berücksichtigen
In der traditionellen katholischen Sexualmoral ist viel vom Naturrecht die Rede. In einem Interview erklärt der Berliner Theologe und Ethiker Andreas Lob-Hüdepohl am Mittwoch, welchen Einfluss dieses Rechtsdenken hatte und inwieweit es Reformen voranbringen kann. Lob-Hüdepohl wirkt beim Reformdialog der katholischen Kirche in Deutschland, dem Synodalen Weg, mit. Dort engagiert er sich unter anderem in dem Forum, das sich mit Sexualität und Partnerschaft befasst. Zudem gehört er dem Deutschen Ethikrat an.
Frage: Herr Professor Lob-Hüdepohl, die traditionelle katholische Sexualmoral steht seit langem in der Kritik. Die sie verteidigen, begründen dies oft auch mit dem Naturrecht. Was bedeutet dieser Begriff?
Lob-Hüdepohl: Er vereint sehr viele unterschiedliche Strömungen des Rechtsdenkens. So verstand der mittelalterliche Theologe Thomas von Aquin darunter, in Übereinstimmung damit zu leben, was wir in der Natur, also etwa in der Natur des Menschen, an bedeutsamen Sachverhalten und sinnvollen Zusammenhängen erkennen. Naturrecht ist in diesem Sinne also ein Vernunftrecht. Es gebietet, gemäß der Vernunft zu leben.
Frage: Was heißt das mit Blick auf die Sexualmoral?
Lob-Hüdepohl: Da stellt sich zum Beispiel die Frage, wozu die menschliche Sexualität dient und was somit unser Handeln bestimmen sollte. Über viele Jahrhunderte war die Antwort: der Fortpflanzung und sonst eigentlich nichts. Die moderne Sexualwissenschaft sieht aber auch noch ganz andere Sinndimensionen in der menschlichen Sexualität, etwa Beziehungen auszudrücken, sie zu festigen und nicht zuletzt: lustvolle Bejahung der menschlichen Leiblichkeit. Solche Sachverhalte muss eine zeitgemäße Sexualmoral berücksichtigen.
Frage: Mit dem Naturrecht zu argumentieren, gilt heute aber nicht gerade als zeitgemäß ...
Lob-Hüdepohl: Das ist verständlich nach einem Naturrechtspositivismus, der auf bestimmte Sachverhalte nur oberflächlich schaut. Das führte zum Beispiel zu der Auffassung, dass die gesellschaftliche Dominanz von Männern, weil sie lange Bestand hatte, von Gott gewollt sein muss. Eine solche Lesart des Naturrechts wird heute in der Theologie aber grundsätzlich abgelehnt.
Frage: Wie sieht dann ein moderner Begriff des Naturrechts – verstanden als Vernunftrecht – aus?
Lob-Hüdepohl: Er berücksichtigt, dass die Natur des Menschen gerade in der Fähigkeit zu kultureller Gestaltung besteht. So gesehen ist es von seiner Natur aus die Aufgabe jedes Menschen, sein Leben in verantwortlicher Freiheit zu gestalten. Keine Ethik – und übrigens auch kein kirchliches Lehramt – kann ihm diese Verantwortung abnehmen. Ethik hat ihn durch ihre Orientierungsangebote darin zu unterstützen – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Frage: Inwieweit kann ein Naturrechtsverständnis, das sich an humanwissenschaftlichen Erkenntnissen orientiert, dazu beitragen, ethische Normen weiterzuentwickeln?
Lob-Hüdepohl: Wenn ein solches Rechtsverständnis nicht – wie es in der Kirche teilweise immer noch der Fall ist – von einer statischen Vorstellung ausgeht, einmal die Natur endgültig entziffert zu haben, kann es auch heute noch seine Berechtigung haben. Eigentlich müssten gerade strenge Vertreter des Naturrechts besonders offen sein für neue humanwissenschaftliche Erkenntnisse. Denn diese entziffern ja immer mehr etwa die Natur menschlicher Geschlechtlichkeit. Zum Beispiel, dass menschliche Geschlechtlichkeit schon biologisch nicht strikt binär ist, also nur voll Mann oder nur voll Frau, sondern eben bipolar, also mit vielen Zwischenschattierungen immer voll Mensch.
Frage: Fließen solche Erkenntnisse eines Vernunftrechtes in die Beratungen und Beschlüsse des Synodalen Wegs ein?
Lob-Hüdepohl: Es ist der zentrale Grundgedanke bei der Debatte über ethische Orientierungen, dass sie Menschen nicht einfach auferlegt werden können, sondern dass Menschen nur auf dem Weg der Vernunft das Verbindliche für ihr Zusammenleben entdecken können – auch im Bereich menschlicher Sexualität. In dieser Debatte schauen wir auch auf die Lehren der Kirche. Wir nehmen sie aber nicht selektiv wahr, sondern sehen auch ihre stete Entwicklung, die selbst Brüche kennt. Anders als manche kirchlichen Hardliner, die so tun, als wären ihre ethischen Auffassungen schon immer und für alle Zeiten in Stein gemeißelt.