Der Stimme der Betroffenen kann die Kirche nicht ausweichen
Die dritte Plenarversammlung des Synodalen Wegs hat die ersten Texte verabschiedet, die dem gesamten Projekt Kontur geben. Die Abstimmungsergebnisse belegen die Bereitschaft der versammelten Bischöfe, Reformagenden zu verfolgen, die durchgreifende Konsequenzen nach sich ziehen. Deshalb diskutierten die Synodalen die theologische Anlage des Orientierungstextes sowie des Grundtextes zu "Macht- und Gewaltenteilung in der Kirche" so eingehend wie kontrovers – mit vielen episkopalen Wortmeldungen.
Besonders der Grundtext stellt entscheidende Weichen für den Fortgang des Synodalen Wegs. Jedem war klar: Fällt er durch, droht der ganze Synodale Weg zu scheitern. Seit Juni 2019 wurde zunächst in einer von DBK und ZdK eingerichteten Arbeitsgruppe, dann im Forum I des Synodalen Wegs an diesem Text gearbeitet. Er hat mehrere Redaktionsschleifen durchlaufen und vielfältige Anregungen wie Änderungsvorschläge der Synodal:innen aufgenommen. Die Diskussionen im Forum, in den Hearings, vor allem auf den beiden Plenarversammlungen sowie der Online-Versammlung des Synodalen Wegs bilden sich im Text ab. Aber es hat sich am Donnerstag auch gezeigt, dass sie nicht abgeschlossen sind.
Das gilt auch für den jetzt verabschiedeten Grundtext, wie sich an einer markanten Stelle der synodalen Debatte zeigt. Zur Diskussion stand die Rede von einem "besonderen Lehramt der Betroffenen". Diese Formulierung wurde bei der letzten Redaktion des Textes neu aufgenommen. Sie geht auf einen Schlagabtausch der zweiten Plenarversammlung zurück. Nachdem Bischof Voderholzer ein "unfehlbares Lehramt der Betroffenen" zurückgewiesen hatte, bestärkte Bischof Overbeck genau dies. In ihnen trete der Kirche Christus selbst entgegen. Auf dieser Linie formulierte der Entwurf des Grundtextes, die Kirche müsse "auf die Stimme derer hören, die in der Kirche vom Missbrauch ihrer Macht betroffen waren und sind. Ihr besonderes Lehramt gilt es anzuerkennen, weil die Stimme Christi in ihnen vernehmbar wird (Mt 5,1-12)."
Geschichtlich entwickelter Begriff
Nicht zuletzt Bischöfe haben an dieser Formulierung Anstoß genommen und Änderungsanträge eingebracht. Die Debatte um den Grundtext hat ihren Bedenken und Kritik Raum gegeben. Auch wenn es zeitlich auf eine Minute begrenzte Statements waren: in Rede und Gegenrede lagen die relevanten Fragen und Argumente auf dem Tisch. Wird die Rede vom "Lehramt" mit der Erweiterung um die Betroffenen nicht unscharf? Verliert die spezifische Bedeutung des bischöflichen Lehramts an Kontur? Interessanterweise ist der Begriff des Lehramts keiner eigenen dogmatischen Definition unterzogen. Er entwickelt sich geschichtlich. Das zeigt sich in der Disposition des unfehlbaren Lehramts in der Kirche. Während das Erste Vatikanische Konzil es auf den Papst konzentrierte, verbindet es das Zweite Vatikanische Konzil mit dem Kollegium der Bischöfe, aber auch mit dem Glaubenssinn aller Getauften und Gefirmten. "Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben, kann im Glauben nicht irren." (Lumen Gentium 12). Das kirchliche Lehramt bleibt klar auf Papst und Bischöfe rückbezogen. Ihnen kommt die Vollmacht verbindlichen Lehrens zu. Das bedeutet aber nicht, dass sie allein bestimmen. Der Glaubenssinn des Volkes Gottes muss gehört werden. So viele Stimmen es gibt, so unterschiedlich sie ausfallen – ihr Glaubenszeugnis erhält Gewicht. Hier knüpft die Rede vom besonderen Lehramt der Betroffenen an. Sie haben in der Kirche sexuellen, geistlichen und pastoralen Missbrauch erfahren. Die Täter gehören dabei derselben Kirche an wie die Opfer. Das stellt wiederum eine kirchliche Tatsache dar, die vor allem eins fordert: der Stimme der Betroffenen in der Kirche Raum zu geben, damit der katholische Missbrauchskomplex durchschlagen werden kann.
Im Volltext: Beschluss "Macht und Gewaltenteilung in der Kirche"
Am 3. Februar 2022 hat die dritte Synodalversammlung den Text "Macht und Gewaltenteilung in der Kirche – Gemeinsame Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag" beschlossen.
Dafür gibt es einen eigenen Ort im lehramtlichen Gefüge der katholischen Kirche. Im gemeinsamen Priestertum unterscheiden sich das Priestertum der Gläubigen und das hierarchische Priestertum "dem Wesen nach", sind aber "einander zugeordnet" (LG 10). Damit haben die "Laien" Anteil "am Priestertum Christi", auch am prophetischen Lehramt Christi (LG 31). Das gilt in besonderer Weise für Menschen, die in der Kirche sexualisierte Gewalt und den Missbrauch geistlicher Macht erfahren mussten. Erst ihr Zeugnis hat die Kirche zu einer Einsicht gezwungen, ohne die sie Christus heute nicht glaubwürdig verkündigen kann. Auf diese Weise verkörpern die in der Kirche von Missbrauch betroffenen Menschen in ihrem Leiden ein eigenes Lehramt in der Kirche.
Instrumentalisierung der Betroffenen?
Aber stellt das nicht eine Instrumentalisierung dar, wie der Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück befürchtet? Sein Hinweis hat Gewicht. Die von Missbrauch betroffenen Menschen dürfen auf keiner Ebene für kirchliche Agenden funktionalisiert werden. Das gilt es konsequent zu beachten. Genau deshalb schlug der überarbeitete Grundtext des Forums 1 mit der Rede vom "besonderen Lehramt der Betroffenen" eine neue Perspektive vor. Es geht nicht darum, dass die Kirche ihnen eine Stimme gibt, sondern dass ihre Stimme von sich her Autorität für die Lehre der Kirche besitzt. Die Menschen, die in der Kirche von Missbrauch betroffen sind, kommen zu Wort, und die Kirche muss hören. Das ist das Gegenteil von Instrumentalisierung. Das entspricht dem Evangelium: In den Betroffenen kirchlicher Gewalt tritt der Kirche Christus entgegen. Sie sind in der Kirche, die Missbrauch zugelassen und verschleiert hat, an den Rand gedrängt und übersehen worden (vgl. Mt 25,40-46).
In der abschließenden Debatte um den Grundtext wurde schließlich mit knapper Mehrheit ein Alternativvorschlag angenommen. Das "Lehramt der Betroffenen" wurde gestrichen. Stattdessen heißt es nun: Die Kirche "muss auf die Stimme derer hören, die von kirchlichem Machtmissbrauch betroffen waren und sind. In ihnen wird nach dem Zeugnis der Hl. Schrift (Mt 5,1-12; Mt 25,31-46) die Stimme Christi vernehmbar. Ihr Schrei ist ein besonderer 'Locus theologicus' für unsere Zeit."
Verschärfung des Gedankens
Die Ersetzung des "besonderen Lehramts der Betroffenen" dürfte die Annahme des Grundtextes gerade für einige Bischöfe erleichtert haben. Ironischerweise bringt die veränderte Textfassung indes eine Verschärfung des Gedankens. Denn der Synodale Weg hat sich nun auf eine Bestimmung der Betroffenen als locus theologicus festgelegt – auf einen maßgeblichen Referenzort, der für die Rede von Gott Bedeutung hat. Man muss sich auf ihn beziehen; man darf ihm nicht ausweichen; er besitzt eigenes Gewicht in der Darstellung der kirchlichen Lehre. Das stellt zum einen eine markante Erweiterung der Loci-Lehre dar, die ein Tableau von zehn Referenzorten theologischer Urteilsbildung vorsieht, mit der Heiligen Schrift und der apostolischen Tradition an der Spitze. Zum anderen waren die Betroffenen in der vorgeschlagenen Fassung des Grundtextes dem Lehramt zugeordnet, und zwar mit dem einschränkenden Akzent des "besonderen Lehramts". Nun werden sie als ein eigener locus theologicus ausgewiesen, der als solcher Autorität besitzt. Statt abzuschwächen, hat der Synodale Weg das Lehramt der Betroffenen letztlich – mit Bischofsstimme – verstärkt. Dieser Perspektive kommt ab jetzt eine eigene apostolische Dignität zu: schließlich wurde der gesamte Grundtext "Macht und Gewaltenteilung in der Kirche" mit einer Dreiviertelmehrheit der Bischöfe angenommen.