Als Ignatius von Loyola bei den Benediktinern in die Schule ging

Das vergessene benediktinische Fundament der Jesuiten

Veröffentlicht am 20.02.2022 um 12:00 Uhr – Lesedauer: 

London ‐ Die einen sind als mobile Einsatztruppe Gottes unterwegs, die anderen erbauen epochale Gotteshäuser – Jesuiten und Benediktiner erscheinen wie Gegensätze. Stephan Hecht aber folgt einer fast vergessenen Spur: Hat Jesuitengründer Ignatius sein berühmtestes Vermächtnis einem Benediktiner zu verdanken?

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Es muss für den jungen Adligen, der im Februar des Jahres 1522 nach einer komplizierten Beinverletzung seine Heimat verließ, alles andere als ein leichter Weg gewesen sein. Das Ziel, dass der junge Mann aus dem Hause Loyola vor seinen Augen hatte, war das Bergkloster auf dem Montserrat. Am Nationalheiligtum Spaniens wollte er symbolisch sein Schwert der Moreneta, der Schwarzen Madonna, wie sie im Volksmund heißt, übergeben, um nach der Bekehrung am Krankenbett einen Neuanfang zu besiegeln, der ihn zum Gründer eines Ordens machen sollte, aus dem rund 500 Jahre später mit Franziskus ein Papst hervorgehen wird, der die Kirche selbst auf einen Weg der Erneuerung setzten will.

Mangel an geistlichen Berufungen – ein Problem des späten 15. Jahrhunderts

Einen solchen Neuanfang hatte das dortige Benediktinerkloster einige Jahre zuvor selbst erleben müssen. Am Ende des 15. Jahrhunderts standen die Zeichen nämlich alles andere als günstig. Die Zahl der Mönche sank stetig. So wird überliefert, dass sich dort vermutlich nur noch sieben Mönche, drei Eremiten, zwei Laienbrüder, zwei Ministranten und ein Altardiener befanden. Der Abt hingegen ließ sich auf dem Bergkloster kaum sehen und das Klostergebäude selbst stand kurz vor dem Verfall, da die sowieso schon spärlichen Einnahmen einigen wenigen kirchlichen Dignitären zugutekamen. So verwundert es auch nicht, dass das spanische Königspaar beim Besuch des Nationalheiligtums so erschüttert über die dortigen Missbräuche waren, dass sie die Benediktiner um eine umgehende Erneuerung baten. Einige Stimmen sehen hier auch den berühmten Franziskanerkardinal Francisco Jiménez de Cisneros am Werk, der als Beichtvater von Königin Isabel eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben könnte. Fakt ist, dass sein Cousin, der Benediktiner García Jiménez de Cisneros, mit dieser Reform betraut wurde. Was geschah?

Bild: ©picture alliance / Design Pics / Ken Welsh

Die spanische Königin Isabel war beim Besuch des Montserrat erschüttert über den Zustand des Nationalheiligtums.

Den dortigen Abt, Juan de Peralta, entließ man zuerst mit einer stattlichen Pension, um Platz für Reformen zu schaffen. Cisneros selbst wurde zunächst als Prior eingeführt, worauf er mit den "Constitutiones heremitarum Montisserati" (1494) die in den um das Bergkloster lebenden Eremiten in den Mönchsstand erhob. Nach erfolgter Einsetzung als Abt im Jahr 1499 folgte dann die klösterliche Reform, die in einer neuen Konstitution bestehen sollte, der Cisneros aber im Jahr zuvor ein Exerzitienbuch voranstellte, um die Gemeinschaft auch innerlich zu ordnen und auf den Weg zu bringen. Der Erfolg stellte sich schnell ein. Pilgerströme nahmen zu, worauf das Kloster einen materiellen Aufschwung erfuhr, zahlreiche Benefizien übernehmen konnte und sich neben einer Schule und einem Novizenhaus endlich auch eine Buchpresse als Zeichen des Aufschwunges leisten konnte. Das Bergkloster auf dem Montserrat avancierte sich so binnen weniger Jahre zum geistlichen Hotspot im Goldenen Zeitalter Spaniens, wobei das Exerzitienbuch nicht nur den dortigen Benediktinern zugutekam, sondern auch den Pilgern in Form einer Kurzversion in ihren geistlichen Nöten helfen sollte.

Es war vermutlich diese Kurzversion, die Ignatius bei seinem Aufenthalt auf dem Montserrat kennenlernte. Demnach berichtet der Jesuit Pedro de Ribadeneira rund einhundert Jahre später in einem Brief an Francisco Girón davon, dass es "eine alte und sehr bekannte Sache unter den Patres Unserer Lieben Frau vom Montserrat [wäre]..., dass unser seliger Vater Ignatius auf dem Montserrat vom Buch oder Exercitatorio des Paters Fray García Jiménez de Cisneros Kenntnis hatte und daraus in den Anfängen Nutzen für sein Gebet und seine Betrachtung gezogen hat, dass ihn Pater Fray Jean Chanon instruiert und ihn einige Dinge daraus gelehrt hat und Ignatius, als er sein Buch, das er danach verfasste, Ejercicios Espirituales nannte, den Namen von dem Buch oder Exercitatorio des Pater Fray García nahm."

"Alles nur geklaut"?

Doch finden sich Spuren in der Biographie des Ignatius, die auf einen direkten Einfluss hindeuten könnten? Steinke verweist hier auf den "Bericht des Pilgers". Die Generalbeichte des jungen Adligen aus Loyola oder ein vertrauliches Gespräch mit einem Beichtvater können parallel zu den ersten Wochen in den benediktinischen Exerzitien gelesen werden. Ferner wird überliefert, dass Ignatius anfänglich sieben Gebetshoren täglich absolvierte, was auf das "Directorio" hinweisen könnte, welches dem Exerzitienbuch angefügt wurde. Polemische Stimmen warfen deshalb dem noch jungen Jesuitenorden vor, sie hätten "all die Vollkommenheit ihrer Frömmigkeit und Meditationsart" von Cisneros. Ferner bemerkt eine andere Stimme aus dem 20.Jahrhundert kritiklos, dass doch die Jesuiten "ihren Ursprung und ihre Exerzitien dem Benediktinerorden" zu verdanken hätten. Vorwürfe, die sicherlich etwas grob und pauschal klingen. Doch was begegnet dann dem Leser dieses Werkes?

Cisneros möchte den Exerzitanten auf den drei klassischen Wegen abendländischer Spiritualität – dem Weg der Reinigung (via purgativa), dem Weg der Erleuchtung (via illuminativa) und dem Weg der Vereinigung (via unitiva) – dorthin führen, dass er "in der Liebe zu Gott ohne Maß" wächst, dass "eingeschrieben in unser Herz ist". Es geht ihm um eine "innere Tätigkeit", die ihn zunächst auf dem ersten Weg – dem Weg der Reinigung – mit all den verdrängten Fehlern und Schwächen in seinem Leben konfrontieren soll. Als Meditationsstoffe verwendet der Abt dabei teils gewaltige Bilder, welche der Frömmigkeit seiner Zeit entnommen sind und den Leser über Sünde, Tod und Gericht in die Betrachtung des Himmels führen soll. Cisneros verwendet hierbei das Bild einer wunderbaren Stadt. "Im Inneren der Stadt ist ein wunderschöner Platz, der aus den schönsten Pflanzen besteht, die man sich nur vorstellen kann. Dort gibt es Lilien, Rosen, und andere Blumen von solch großem Duft, wie man ihn in Worte nicht fassen kann und welche niemals eingehen. Dort ist immer Sommer und lieblicher Geruch" (XVIII).

Dieser Weg dient deshalb nicht dem Selbstzweck. Vielmehr geht es darum, sich von beunruhigenden Gedanken freizumachen, Zuversicht zu gewinnen, Eifer und Selbsterkenntnis zu entfachen und Klarheit für den Weg nach vorne zu erhalten. Der Exerzitant soll so eine innere Offenheit als Frucht mit der Auseinandersetzung bewusst oder unbewusst begangener Fehler und Schwächen gewinnen, damit er sich dann auf dem Weg der Erleuchtung der "geistlichen Sonne" aussetzen kann. Hier begegnen dem Leser Texte über Erschaffung, Berufung, Gottes Fürsorge und Vorsehung, die endlich auf dem Weg der Vereinigung zur Einheit mit sich selbst und Gott, der "Stille des inneren Menschen", führen sollen. Cisneros beschreibt dieses Ziel der Exerzitien als ein Spüren der Gegenwart Gottes, als ein Feuer, "dessen Hitze" man "fühlt", bevor man "sein Licht sieht". Es "kommt nicht, so wie die anderen Wissenschaften, auf Verstandeswegen in uns zum Vorschein, sondern durch Übungen der inneren Affekte", die in der Erfahrung von Trost, Freude und Beruhigung oder einer Gewissheit begleitet von Demut münden kann. Die Erfahrung bleibt aber endlich nur Stückwerk. So muss der Exerzitant sich damit zufriedengeben, Gott vor allem an seinen Wirkungen als Schöpfer, Erlöser, Macher, Fürsorger und Entlohner mehr und mehr zu erfahren und kennenzulernen.

„Darum kann jeder Mensch, so einfach und unberührt er auch sein mag, ein Bauer oder eine unwissende Frau, in einem Augenblick ein Gelehrter in dieser Schule der Weisheit werden.“

—  Zitat: García Jiménez de Cisneros

Dass die Exerzitien dabei ihren Sitz im Leben im monastischen Stundengebet haben, zeigt sich schon allein daran, dass die einzelnen Meditationszeiten den jeweiligen Gebetsstunden vorausgehen sollen. Ferner finden sich im Text verstreut immer wieder Anspielungen auf die Benediktsregel, was sich z.B. an der Wahrung des rechten Maßes oder den Anspielungen auf die Stufen der Demut zeigt. Bei diesen Exerzitien handelt es sich deshalb nicht um eine plumpe Methode, vielmehr geht es darum, sich auf den Weg zu machen, um, wie auf einer Wendeltreppe, sich über die wiederholte Betrachtung der drei Wege immer mehr auf die Erfahrung Gottes bestmöglich vorzubereiten. Gott bleibt hier aber immer der Urheber jeglicher Erfahrung und Lenkung, weshalb dieses Ziel letztendlich auch von jedem erreicht werden kann. "Darum kann jeder Mensch, so einfach und unberührt er auch sein mag, ein Bauer oder eine unwissende Frau, in einem Augenblick ein Gelehrter in dieser Schule der Weisheit werden."

Der Leser findet mit diesem Exerzitienbuch deshalb eine "kleine Sensation" (Stüfe) abendländischer Spiritualitätsgeschichte, was vor allem auch für den vierten Teil gilt, der als Traktat Über die Kontemplation gelesen werden kann und den reichen Schatz an Lebenserfahrung des Abtes widerspiegelt. So geht es beim geistlichen Leben nicht vordergründig um theoretisches Wissen, sondern um eine aus der Affektivität gewonnenen Weisheit. Der Mensch soll letztendlich lernen, "Gott zu lieben und zu schmecken, wie gut und lieblich er ist", um aus dieser Erfahrung das "Schweigen und die Stille" des inneren Menschen zu lernen. Als "Tor, durch das wir in die besagte Kontemplation eintreten" gilt dabei mit Bonaventura die Betrachtung des Lebens Jesu, wobei die Bewegung der Betrachtungen bei der Menschlichkeit Christi ansetzen soll, um dann in ein Hineinwachsen in die Gottmenschlichkeit zu münden.

Männer und Frauen in Ordensgewändern stehen während des Stundengebets in der Kirche Groß Sankt Martin.
Bild: ©FMJ

Das Stundengebet ist seit Jahrhunderten Teil des klösterlichen Lebens – wie hier bei der Monastischen Gemeinschaft von Jerusalem.

Was könnte nun aber Ignatius aus diesen Exerzitien gelernt haben? Ansgar Stüfe sieht hier, sicherlich auch neben vielen weiteren Elementen wie die eben genannte Betrachtung der Menschlichkeit Jesu, vor allem einen Dreischritt: "Ignatius greift diesen Dreischritt auf. Zunächst soll jeder Exerzitant, ob Mann oder Frau, tief in sein Inneres hinabsteigen und seine Sünden erkennen. […] Am Tiefpunkt dieses Weges kommt dann die Wende. […] Wenn dann die Verzeihung Gottes erkannt wird, soll die Person durch Exerzitien in neuer Kraft und frei von Schuld wieder neue Kräfte sammeln. Dann ist der Mönch in der Lage, Entscheidungen zu treffen, weil er rechte Urteile fällen kann." Bei Ignatius liegt der Schwerpunkt vor allem auf der Willensentscheidung und der Unterscheidung der Geister, die der Adlige, ähnlich dem Wüstenvater Antonius und Mönchsvater Benedikt, in einer Höhle in Manresa unweit des Montserrat selbst erlernt und erfahren hat. Bei Cisneros hingegen liegt der Akzent mehr auf der Integration in und Erneuerung einer Gemeinschaft, die von Missbrauch und Verfall durchzogen ist.

Das Exerzitienbuch des Benediktiners Cisneros kann deshalb dem Leser vor allem in diesen Tagen, in der sich die katholische Kirche in einem Spannungsfeld von institutionellem Versagen und hoffnungsvollem Reformaufbruch befindet, zeigen, sich vor jeder äußeren Neuordnung zunächst mit der eigenen Schuld, den Fehlern und Versagen fair auseinanderzusetzen, dann, wie Benedikt, dem gegenseitigen Hören auf Gott und Untereinander einen weiten Raum zu geben und aus einer mehr oder weniger gewonnenen Klarheit innere Kraft für den Aufbruch zu schöpfen. Nur eines ist für Cisneros dabei ausschlaggebend: Mach dich mit allem Realismus über deine verdrängten Fehler, Schwächen und Grenzen auf den Weg und sei offen für das Neue, dass dir im Vertrauen auf die Erfahrung geistlichen Trostes begegnet, die dich auf der Wendeltreppe des Lebens führen wird und in der Betrachtung der Menschlichkeit Jesu ihren Ausgangspunkt nimmt! Eine Erfahrung, die auch Ignatius ein Leben lang begleitete.

Von Stephan Hecht

Der Autor

Stephan Hecht hat in München katholische Theologie und Philosophie studiert. Im Jahr 2019 schloss er sein Doktorat über den "inneren Menschen" ab und erwarb anschließend ein Lizenziat im Kirchenrecht. Er lehrt Theologie an der Fordham University (London Center) und arbeitet an einem Projekt über die Rechtstheologie bei Francisco Suárez SJ. Im März 2021 erschien seine Übersetzung der "Exerzitien des geistlichen Lebens" im Vier-Türme-Verlag in Münsterschwarzach. Anselm Grüns "Benediktinische Exerzitien" beruhen auf dieser Übersetzung.