Die Propaganda der Kirchen
28. Juni 1914: Mit dem tödlichen Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand, den Thronfolger Österreich-Ungarns, und seine Gemahlin Sophie in Sarajevo beginnt vor 100 Jahren eines der schwärzesten Kapitel der europäischen Geschichte. Das Attentat löst die Julikrise aus, die schließlich zum Ersten Weltkrieg führt. In Deutschland wird der bevorstehende Waffengang allgemein begrüßt; man sehnt den Krieg herbei, hofft auf einen Aufbruch, eine geistige und moralische Erneuerung.
Die "Augustbegeisterung" überkommt auch die beiden großen Kirchen . Sowohl Katholiken als auch Protestanten predigen vom "heiligen Krieg" und nutzen Kirchenlieder für Kriegspropaganda. "Das Kirchenlied wird im Ersten Weltkrieg zum Kriegsverbündeten", sagt Michael Fischer. Der Musikwissenschaftler und Theologe hat an der Universität Freiburg ein Forschungsprojekt durchgeführt, das sich mit Religion, Nation und Krieg in Kirchenliedern beschäftigt. "Beide Kirchen betreiben Kriegspropaganda, haben im Großen und Ganzen die gleichen Argumentationsfiguren", sagt er. "Beide geben auch Soldatengesangbücher mit geistlichen und vaterländischen Liedern heraus. Das Kirchenlied als gezielte Kriegspropaganda scheint aber ein evangelisches Phänomen zu sein."
"Das Kirchenlied, unser Kriegsverbündeter"
Als Erklärung führt Fischer an, dass das Kirchenlied im evangelischen Bereich damals einen ganz anderen Stellenwert hatte. In der katholischen Liturgie spielte der deutschsprachige Gesang im Gottesdienst eine Nebenrolle; bevorzugt wurden gregorianische Choräle auf Latein, die emotional nicht so verankert gewesen seien. In der evangelischen Liturgie dagegen sei die "Liedpredigt" populär gewesen, in der Kirchenlieder nicht selten patriotisch ausgelegt wurden. In den Kriegsjahren erschien eine ganze Reihe von Laienschriften und Predigten mit Titeln wie "Der Segen des luth. Kirchenliedes in Kriegszeiten" oder "Das Kirchenlied, unser Kriegsverbündeter".
Besonders populär war während des Ersten Weltkriegs "Ein feste Burg ist unser Gott" von Reformator Martin Luther, in dem es heißt: "Ein feste Burg ist unser Gott,/ ein gute Wehr und Waffen./Er hilft uns frei aus aller Not,/die uns jetzt hat betroffen./Der alt böse Feind mit Ernst ers jetzt meint (...)." Luthers Lied, das von miteinander ringenden Mächten des Himmels und der Hölle handelt, konnte im Krieg plötzlich national-protestantisch ausgelegt werden, "ohne dass eine Silbe geändert werden musste", so Fischer.
Als "Feind" habe man nicht mehr den Teufel verstanden, sondern die Kriegsgegner Frankreich, England und Russland; das Reich Gottes setzte man mit dem Deutschen Reich gleich und legitimierte den Weltkrieg damit religiös. Die Soldaten konnten reinen Gewissens in den Krieg ziehen, weil sie dieser Vorstellung folgend für eine gerechte Sache eintraten. Wie populär das Lied war, zeigte sich auch daran, dass der Text in Gedichten abgewandelt und auf unzähligen Postkarten gedruckt wurde.
"Nun dankte alle Gott" als Kriegslied
Kirchenlieder seien auch deshalb gut für Propaganda geeignet gewesen, weil Musik im Kaiserreich fest mit den Institutionen Schule, Kirche und Militär verknüpft gewesen sei, führt Fischer weiter aus. "Ein Großteil der schulischen Erziehung lief über das Lied - auch die patriotische Erziehung, die Treue zum Kaiserhaus oder Landesherren förderte. Der Religionsunterricht war voller Gesang und der Katechismus wurde über Lieder gelernt."
Zu den Kirchenliedern, die zu Propagandazwecken verwendet wurden, gehörte auch der Klassiker "Nun danket alle Gott", der heute in der katholischen und evangelischen Kirche gleichermaßen gesungen wird. Im Katholizismus war das Lied ursprünglich nicht verbreitet, wie Fischer erklärt. "Das kam erst durch den Krieg." Ein Grund liege möglicherweise in der Wirkung der Melodien, die Erhabenheit und Größe suggerieren. Das Motiv der Autoren war der Lobpreis Gottes. Doch zwischen 1914 und 1918 wurde es, wie viele andere Lieder, dazu genutzt, um den Krieg zu verklären.
Von Elisabeth Rahe (KNA)