Wie der Mitgliederschwund die Kirche verändert
Es ist eigentlich nur eine Unterschrift, eine Sache von Minuten. Doch wer gerade aus der Kirche austreten will, muss Zeit haben. Denn die Termine bei den Standesämtern sind oft auf längere Zeit ausgebucht – zu viele Menschen wollen ihrer Kirche den Rücken kehren. Das sind oft nicht mehr nur Kirchenferne, sondern zunehmend ehemalige Messdiener, Lektoren und Katecheten. Den mit vielen Millionen Mitgliedern immer noch "großen" Kirchen bricht die Basis weg, und das in steigendem Tempo. Irgendwann in diesem Jahr wird es so weit sein, dass weniger als die Hälfte der Menschen in Deutschland entweder katholisch oder evangelisch ist. Wie wird sich die Kirche und ihre Rolle in der Gesellschaft dadurch verändern?
Zuerst die gute Nachricht: Weihnachten und Ostern werden nicht ausfallen. Denn die großen christlichen Feste haben auch über den Kreis der Glaubenden hinaus Bedeutung. Das zeigen die Statistiken: Etwa drei Viertel der Deutschen feiern Ostern und Weihnachten. Je mehr soziale Komponenten solche Feste haben, etwa als Familienfest, desto stabiler sind sie: Etwa 20 Prozent der Menschen in Deutschland gehen an diesen Anlässen in die Kirche. Das mag wenig erscheinen, ist aber verglichen mit normalen Sonntagen sehr viel, an denen nur gut neun Prozent der Katholiken 2019 in die Kirche gingen, 2020 waren es nur knapp sechs Prozent.
In Deutschland spielt, wie in allen anderen europäischen Ländern auch, Religion für immer weniger Menschen eine Rolle. Zwar sind noch relativ viele Deutsche Kirchenmitglieder, wirklich wichtig im Leben ist Religion aber nur noch für 17 Prozent der Bundesbürger. "Immer mehr Menschen sind zwar nicht aktiv gegen Religion, sie ist ihnen aber schlicht egal", formuliert es der Leipziger Religionssoziologe Gert Pickel.
Glaube geht zurück
Dieser Prozess lässt sich auch am politischen Tagesgeschehen ablesen: Gerade arbeitet die Bundesregierung an der Abschaffung des sogenannten "Werbeverbots für Abtreibungen", zudem ist in Deutschland passive Sterbehilfe nun zugelassen. Seit 2017 wird bei einer Eheschließung nicht mehr danach unterschieden, welches Geschlecht diejenigen haben, die sie eingehen.
"Alleine, dass es diese Diskussionen gibt, zeigt schon einen Wandel", so Pickel. Noch bis in die 1960er Jahre sei völlig klar gewesen, dass es eine Ehe nur zwischen einem Mann und einer Frau geben kann – und der Mann die Hosen anhat. Noch bis 1958 konnten Männer ihren Frauen ohne deren Zustimmung den Job kündigen. Öffnung der Ehe, Schwangerschaftsabbruch, Sterbehilfe? Diese Themen waren so fest zementiert, dass sie in der öffentlichen Diskussion noch nicht einmal thematisiert wurden.
Dass das nun anders ist, hat mit zwei Entwicklungen in modernen westlichen Gesellschaften wie der deutschen zu tun, die ineinander verwoben sind. Da ist zunächst die Individualisierung. Schon seit einigen Jahrzehnten lässt sich beobachten: Menschen wollen nicht in erster Linie die Standards ihrer Umwelt erfüllen, sondern sich selbst verwirklichen. So gab es noch bis in die 1960er Jahre hinein fest gefügte Milieus, die klare gemeinsame Einstellungen hatten: Da waren die konservativen Katholiken und Unionswähler auf dem Land, dort die SPD-wählenden und eher kirchenfernen Arbeiter, ein paar Kilometer weiter die kirchenfernen Protestanten im Norden, die zwar eher konservativ waren, aber SPD wählten. Diese Milieus haben sich beinahe vollständig aufgelöst, nicht zuletzt auch durch jüngere Generationen, die mobiler geworden sind. Über Generationen weitergetragene lokale Netzwerke, in denen auch der Glaube eine feste Instanz ist, gibt es nicht mehr.
Persönliche Werte mit einem Teil Religion
Individuelle Persönlichkeiten vertreten nun auch in erster Linie ihre persönlichen Werte. Davon kann Religion ein Teil sein, muss es aber nicht. "Kirchenmitglieder sehen sich nicht mehr für ewige Zeiten in ihrer Kirche verankert, sondern sie entscheiden immer wieder neu darüber, ob sie dabeibleiben oder nicht – und wie sie ihre Religiosität gestalten", so Pickel. Das zeigt sich etwa bei Neuen Geistlichen Gemeinschaften: Hier engagieren sich Menschen zwar einerseits sehr hingebungsvoll, andererseits aber oft nur zeitlich befristet. Sie nehmen für eine bestimmte Phase an einer bestimmten Art von Spiritualität teil, formuliert es etwa die Erfurter Pastoraltheologin Maria Widl: "Sie wechseln sie aber auch wieder."
Diese Individualität gibt es auch beim Umgang mit ethischen Fragestellungen. Hier spiele das religiöse Empfinden durchaus noch eine Rolle, sagt Pickel: "Doch wer generell ein libertär denkender Mensch ist, wird auch in religiöser Hinsicht für einen selbstgewählten Tod sein. Auch wenn die Amtskirche das anders sehen mag." Individuelle ethische Ansichten passen sich also in die ebenso individuelle Religiosität ein.
Diese Tendenz sorgt auch innerhalb von Gruppen wie etwa den kirchlich Gebundenen für eine Vielfalt an Haltungen – und für eine immer größer werdende Vielstimmigkeit innerhalb einer Glaubensgemeinschaft. Lange schon gibt es nicht mehr die eine Meinung der Kirchen, vielmehr haben sich kirchenintern Interessengruppen mit verschiedenen Schwerpunkten gebildet.
2.0 oder 1.0?
Das lässt sich gut an zwei Gruppen ablesen, die sich momentan schon in die Diskussion einmischen: Maria 2.0 und Maria 1.0, wobei letztere als Reaktion auf die erstere gegründet wurde. Maria 2.0 wurde von Frauen gezielt als Reformbewegung initiiert. "2.0 heißt Neuanfang: Alles auf null stellen", formulierte es eine der Begründerinnen, Lisa Kötter. Dagegen bildete sich unter konservativen Katholikinnen Maria 1.0 unter der Prämisse: "Maria braucht kein Update."
Wie diese beiden Gruppen haben sich in der katholischen Kirche viele weitere gebildet, die oft mit derselben Argumentationsgrundlage arbeiten: der Bibel. Wegen schwindender Mitgliederzahlen werden diese einzelnen Gruppen näher zusammenrücken – "und versuchen, die Kirche nach ihren Vorstellungen umzugestalten", sagt Pickel voraus. Das wird immer mehr zu Konflikten innerhalb der Kirche führen. Denn diese Gruppen machen es den Kirchenleitenden schwerer, auf gemeinsame Positionen zu kommen. "Deswegen sind die Verlautbarungen von Bischöfen oft etwas schwammig", so Pickel.
Die kleiner werdende Kirche hat also keine einheitliche Stimme mehr – und verliert so an Resonanz in der gesamtgesellschaftlichen Diskussion. "Die Kirche wird in der Öffentlichkeit nicht verschwinden", beruhigt Pickel. Doch die einzelnen Gruppen werden sich auf ihre Hauptthemen beschränken und dort ihre Positionen stark machen. Zu den Stichworten Nächstenliebe und Sozialpolitik wird es von Christen also weiter starke Wortmeldungen geben, zur Außenpolitik eher weniger. Denn "Kirchenmitglieder wollen ihre Kirche in den meisten Politikfeldern nicht mehr vertreten." Das große Ganze der Kirche wird eine viel kleinere Rolle spielen als die einzelnen Bestandteile.
Veränderungen im Stadtbild
Diese Veränderung des öffentlichen Standings der Kirchen wird sich auch im Stadtbild bemerkbar machen, vermutet Pickel. Kirchengebäude wird es weiterhin geben, sie werden nur noch mehr als jetzt nicht nur ausschließlich Gottesdienstorte sein: Kultur und Soziales werden dort ebenso ihren Platz haben – "das macht Kirchen auch für Nichtreligiöse anschlussfähig". Das gleiche gilt für die karitativen Dienste, auch sie werden weiter sichtbar sein.
Eine weniger große öffentliche Rolle werden dagegen wohl die regelmäßigen Sonntagsgottesdienste spielen. Denn dort können die zahlreichen Gruppen nicht so sichtbar sein. Sie werden eher im Rahmen der Zivilgesellschaft aktiv: Katholikentage oder andere große Events bringen ganz unterschiedliche Teile des kirchlichen Raums in die Öffentlichkeit. "Die Großform für alle, die aus dem Grundgedanken der Volkskirche kommt, wird sich dagegen auflösen", so Pickel.
Ob dieser Wechsel von der Kirche als großer Einheit zum vielstimmigen Sozialraum funktioniert, hängt laut Pickel auch vom Verhalten der Kirchenleitung ab: "Die Kirchen müssen diese Pluralität annehmen und ihr Rechnung tragen", mahnt er an. Das könne eine Überlebenschance sein.
Die Kirche wird es weiterhin geben. Doch sie wird kleiner sein, vielfältiger, konfliktreicher. Damit spiegelt sie eine Gesellschaft wider, in der Menschen weniger bereit sind, sich für immer einer bestimmten Gruppe anzuschließen, sondern je nach Lebenssituation neu entscheiden. Das werden sie auch im Glauben tun und der Kirche ein neues Gesicht geben.