Krise als Chance?
Bodengefechte, Luftangriffe, Kriegsrhetorik – die Krise in der Ukraine spitzt sich immer weiter zu. Während die politische Diplomatie an ihre Grenzen stößt und eine friedliche Lösung des Konflikts immer weiter in die Ferne rückt, besinnen sich die beiden orthodoxen Kirchen im Land auf ihre gemeinsamen Grundwerte. Sie verurteilen die Gewalt und rufen zu Gebeten auf. Sie wollen Frieden und sind dafür sogar bereit, über ihren eigenen Schatten zu springen. Einen Schatten, der über Jahrzehnte immer größer geworden ist.
Kiewer Patriarchat bis heute nicht anerkannt
Beide Kirchen haben eine nicht geringe Zahl an Gläubigen. Das Moskauer Patriarchat ist mit etwa sieben Millionen die größte Kirche des Landes. Sie gilt als moskautreu und untersteht dem Patriarchen der russischen Hauptstadt, Kyrill I. Das Kiewer Patriarchat hat knapp fünf Millionen Anhänger. Das Oberhaupt ist Patriarch Filaret. Der 85-Jährige war es auch, der das Kiewer Patriarchat in den 1990er Jahren gründete. Als Kiewer Metropolit des Moskauer Patriarchats kehrte er der russischen Orthodoxie den Rücken und wurde daraufhin mit einem Bannfluch belegt. Daraufhin gründete er seine "eigene Kirche", die von anderen orthodoxen Patriarchen bis heute nicht anerkannt wurde – erst recht nicht vom Moskauer.
Filaret selbst stand und steht einem Dialog stets offen gegenüber. Das Verhältnis zwischen den ukrainischen Orthodoxien war dabei auch immer von der jeweiligen Staatsführung abhängig. Während sich die Präsidenten Leonid Krawtschuk und Wiktor Juschtschneko öffentlich zum Kiewer Patriarchat bekannten und sich eine einheitliche Kirche für die ganze Ukraine wünschten, waren die Präsidenten Leonid Kutschma und Wiktor Janukowitsch klare Verfechter der Kirche Moskaus. Das aktuelle Staatsoberhaupt Petro Poroschenko ist dagegen zwar Mitglied des Moskauer Patriarchats, gilt Experten zufolge aber als Anhänger einer einheitlichen ukrainischen Kirche.
Obwohl es noch immer nicht anerkannt wird, hat das Kiewer Patriarchat weltweite Ableger. Unter anderem in Deutschland. Paul Echinger ist Mitbegründer des Deutschen Dekanats. Er ist Pfarrer der Gemeinde "Auferstehung Christi" in Neuss. In einer kleinen Kapelle führt er hier regelmäßig Gottesdienste durch. "Gebete sind die stärkste Waffe, die die Menschen zur Verfügung haben", sagt Echinger mit Blick auf die aktuelle Situation in der Ukraine. Der Geistliche spricht von einem feindlichen Verhältnis der "Moskowiten" gegenüber Filaret und seinen Anhängern. Priester werden verurteilt und sogar Taufen und Hochzeiten müssen wiederholt werden, weil sie vom Moskauer Patriarchat nicht anerkannt werden. Echinger ist sich sicher, dass all das irgendwann Geschichte sein wird. Auf einen Zeitpunkt möchte er sich allerdings nicht festlegen.
Ausgangslage für Dialog erneut verändert
Es erscheint wie eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet der Konflikt im Land für eine Annäherung sorgt. "Es ist erstaunlich, dass sich mit der Wandlung der politischen Situation in der Ukraine plötzlich auch das Moskauer Patriarchat aufmacht, mit dem Kiewer in einen Dialog zu treten", sagte Echinger noch vor wenigen Monaten. Damals solidarisierten sich gerade beide Kirchen mit den friedlichen Protesten auf dem Maidan – und das Moskauer Patriarchat signalisierte Gesprächsbereitschaft. Im Februar wurde sogar eine spezielle Kommission gebildet, die eine Einheit der Kirchen herbeiführen sollte. Zu diesem Zeitpunkt standen alle Zeichen im Land auf Veränderung. Die Annexion der Krim und die Unruhen in der Ostukraine haben die Ausgangslage für einen religiösen Dialog jedoch erneut verändert.
In einem Interview sprach der Kiewer Patriarch Filaret erneut von seiner Bereitschaft, einen Dialog zu führen und eine ukrainische Einheitskirche zu gründen. Er bekannte sich zum europäischen Kurs der Ukraine und nannte diesen als Voraussetzung für weitere Gespräche. Während auf theologischer Ebene kaum Differenzen bestehen, dürfte insbesondere die politische Ausrichtung von zentraler Bedeutung sein. Verbal nimmt das Moskauer Patriarchat zwar Rücksicht auf die Belange der Ukrainer – politisch lässt sich der Einfluss Russlands aber nicht leugnen. Doch das könnte sich demnächst ändern.
Wahl des Metropoliten entscheidet über Zukunft
Nach dem Tod des moskautreuen Kiewer Metropoliten Wolodymir vor gut einem Monat wird im August sein Nachfolger gewählt. Von dieser Wahl hängt maßgeblich ab, wie es mit der ukrainischen Orthodoxie weitergeht. „Eine Volkskirche wird die Zukunft sein in der Ukraine, da bin ich hundertprozentig überzeugt – anders kann es und wird es nicht sein“, ist Pfarrer Paul Echinger überzeugt. Die Tendenzen dafür seien gut. Viele Geistliche auf beiden Seiten wollen eine Vereinigung lieber heute als morgen.
Aus Echingers Sicht ist ein weiterer zentraler Aspekt, ob sich die neue Führung zur Ukraine bekennt oder nicht. „Die ukrainische Kirche darf nicht wieder in die Abhängigkeit Moskaus geraten, sondern muss sich eigenständig nach Europa orientieren.“ Wohin der Weg führt, bleibt abzuwarten. Fest steht: Die ukrainische Orthodoxie befindet sich in einer Aufbruchstimmung. Viele Gläubige sehen in der Krise eine Chance. Eine Vereinigung der beiden Kirchen wäre ein starkes politisches Statement und könnte zur Einheit des Landes beitragen.
Von Vassili Golod