Betroffenensprecher Norpoth über Intransparenz und Retraumatisierung

Anerkennungsleistungen für Missbrauchsbetroffene: Problem im System

Veröffentlicht am 01.03.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Knapp 13 Millionen Euro hat die zuständige unabhängige Kommission Missbrauchsbetroffenen im Raum der Kirche bisher zugesprochen – doch die Kritik der Betroffenen bleibt. Für deren Sprecher Johannes Norpoth ist klar: So kann es nicht weitergehen – und er hat Reformvorschläge.

  • Teilen:

Von Anfang an hat der Betroffenenbeirat bei der Deutschen Bischofskonferenz das Verfahren kritisiert, nach dem die Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) Gelder an Betroffene zuteilt. Schon im vergangenen Sommer haben Betroffenenvertreter angesichts des von ihnen als intransparent und traumatisierend wahrgenommenen Systems protestiert. Nach gut einem Jahr hat die UKA erstmals Rechenschaft über ihre Tätigkeit abgelegt – und wieder ist das Unverständnis der Betroffenen groß. Im Interview erläutert der Sprecher des Betroffenenbeirats, Johannes Norpoth, warum das System Veränderung braucht – und wie die aussehen könnte.

Frage: Herr Norpoth, die Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen hat für das erste Jahr ihrer Tätigkeit einen 40-seitigen Bericht vorgelegt. Dennoch klagen Sie über mangelnde Transparenz. Was fehlt aus Sicht der Betroffenen? 

Norpoth: Ausgerechnet die wirklich wichtigen Informationen fehlen: zum Beispiel eine Aufschlüsselung der Höhe der einzelnen Anerkennungsleistungen, die die UKA in ihren Bescheiden zugesprochen hat. 

Frage: Was erwarten Sie sich von einer solchen Aufschlüsselung? 

Norpoth: Ein Abbild davon, wie das tatsächliche Geschehen im System ist. Die überwiegende Mehrzahl der Bescheide lautet auf unter 20.000 Euro. Davon liegt der größte Teil unter 10.000 Euro Weiter aufgeschlüsselt wird das aber nicht. Es gibt zwar die acht Prozent der Bescheide über 50.000 Euro, also Fälle, in denen die UKA Beträge über der eigentlich vorgesehenen Höchstsumme zugesprochen hat. Die Frage ist aber: Was ist mit den restlichen 92 Prozent? Der überwiegende Anteil dieser Fälle liegt im besonders niedrigen Bereich. Das sind Beträge, die nicht funktionieren. 

Frage: Inwiefern nicht funktionieren? 

Norpoth: Wenn man einen Antrag an die UKA schickt, der dann mit 1.000 Euro beschieden wird, dann stellt man sich schon die Frage, ob da nicht schon Retraumatisierung anfängt: Ich bin Opfer einer Straftat, und mir wird nur eine Leistung von 1.000 Euro anerkannt. Das ist nicht nur einmal passiert. Wenn ich jedoch ein wirkliches Anerkennungssystem will und breit in der Presse vermittle, dass das System bis zu 50.000 Euro vorsieht, diese Höhe aber nur in einem sehr geringen Anteil erreicht wird, dann gibt es ein Problem im System.

Frage: Der Betroffenenbeirat hat angeboten, an Lösungen für dieses Problem mitzuarbeiten. Welche Lösungen schweben Ihnen vor? 

Norpoth: Wir sind im Betroffenenbeirat seit fast einem halben Jahr im intensiven Austausch mit der UKA, der Deutschen Bischofskonferenz und der Deutschen Ordensobernkonferenz. Für die Bischöfe sitzt Stephan Ackermann am Tisch. Hier konnten wir schon Verbesserungen erreichen, etwa durch die Aufstockung der Kommission, so dass jetzt schneller entschieden werden kann. Es wurde auch ein Widerspruchsverfahren eingeführt. Dazu müssen wir jetzt die Detailfragen klären. In diese Gespräche haben wir mehrmals Vorschläge eingebracht, aber sind immer wieder an dem Punkt gelandet, dass die Bischöfe an Einzelfallentscheidungen festhalten wollen. Damit sind aber einige Probleme verbunden. 

Über den Betroffenenbeirat

Johannes Norpoth ist Sprecher des Betroffenenbeirats bei der Deutschen Bischofskonferenz. Der Beirat besteht aus zwölf Personen, die von sexualisierter Gewalt und Missbrauch im Zuständigkeitsbereich der katholischen Kirche betroffen sind. Die Mitglieder wurden im Herbst 2020 durch den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz für eine dreijährige Amtszeit berufen. Der Beirat soll die Bischofskonferenz in Fragen des Missbrauchs und der sexualisierten Gewalt beraten, aber auch eigene Initiativen und Sichtweisen aus der spezifischen Sichtweise der Betroffenen einbringen.

Frage: Können Sie nachvollziehen, warum den Bischöfen die Einzelfallprüfung so wichtig ist? 

Norpoth: Für die Einzelfallprüfung ist das Gerechtigkeitsargument ein guter Grund. Aber wenn man das will, braucht es einen sehr opfersensiblen Umgang damit. Hier hat das System erhebliche Webfehler. Das mache ich nicht der UKA zum Vorwurf, die von einer Welle an Anträgen überrannt worden ist, die zwar absehbar war, für die die Kommission aber nichts konnte. Die Mitglieder der UKA machen einen redlichen Job. Ursache ist eine fehlgeleitete organisatorische Planung im Vorfeld. Wenn ich weiß, dass ich ein System installiere, bei dem der "Antragsteller", wie es im Bericht heißt, eine erhöhte Gefahr der Retraumatisierung hat, dann muss ich Wege für die Antragstellung und die Begleitung finden, die opferorientiert das Retraumatisierungsrisiko minimieren. Und das war und ist hier überhaupt nicht der Fall. 

Frage: Inwiefern? 

Norpoth: Gegenwärtig wird den Betroffenen abverlangt, den eigenen Fall nochmals sehr dezidiert vorzutragen. Ich persönlich habe das ganz bewusst nicht getan. Ich habe insgesamt gegenüber fünf Kirchengerichten und anderen Stellen meinen Vorgang sehr ausführlich und kleinteilig dargestellt und musste mich dafür sehr umfassend offenbaren. Ich mache das kein weiteres Mal. Um aber eine höhere Anerkennungsleistung zu erzielen, wäre das wahrscheinlich notwendig. Den Fall noch einmal so ausführlich schildern zu müssen – und das auch noch gegenüber einem Personenkreis, den sie nicht kennen –  bedeutet für viele Betroffene unweigerlich eine Retraumatisierung. 

Frage: Wie ließe sich eine Retraumatisierung denn vermeiden? 

Norpoth: Der sinnvollste Weg wäre eine Stufenlösung, die man beispielsweise an die Istanbul-Konvention des Europarats anlehnen könnte. Man definiert die drei Stufen Übergriffigkeit, sexueller Missbrauch und schwerer sexueller Missbrauch. In diese drei Stufen ließen sich dann Fälle auf Grundlage des vorhandenen Aktenmaterials eingruppieren. Natürlich gäbe es in einem solchen System Unschärfen bei der individuellen Fallbewertung. Ein Stufenmodell erzeugt notwendig Unschärfen, und damit Abstriche bei der Gerechtigkeit. Aber es gibt kein zu hundert Prozent gerechtes System, man muss abwägen. Aus Betroffenensicht ist der Schutz vor Retraumatisierung höher zu bewerten, als eine möglichst absolute Gerechtigkeit zu erzielen. Das ist aber nicht Gegenstand der Diskussion, weil die DBK in den Verhandlungen unmissverständlich mitgeteilt hat, dass sie am Individualsystem und am System einer Einzelfallbewertung durch die UKA festhalten will. Daher geht es leider nur darum, Verbesserungen im Kontext des gegebenen Systems zu erzielen. 

Frage: Welche Spielräume bietet das System? 

Norpoth: Das definiert der Verordnungsgeber. Die Bischöfe haben eine Höchstsumme von 50.000 Euro festgelegt und die Entscheidung darüber in die Hand der UKA gelegt. Eine Idee ist, das System so zu ergänzen, dass es zu einer hohen Ausschöpfung des Leistungsvolumens kommt, ohne die politisch gesetzten Grenzen zu überschreiten. Das würde schon erhebliche Verbesserungen für die Betroffenen darstellen.

Die Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen

Zum 1. Januar 2021 wurde auf Beschluss der deutschen Bischöfe das erweiterte Verfahren zu Leistungen in Anerkennung des Leids, das Betroffenen sexuellen Missbrauchs zugefügt wurde, im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz eingerichtet. Die Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) nimmt die Anträge der Betroffenen über die Ansprechperson der Diözese entgegen, legt eine Leistungshöhe fest und weist die Auszahlung an Betroffene an. An dem Verfahren beteiligen sich auch weitere kirchliche Institutionen, vor allem eine große Zahl von Ordensgemeinschaften, die der Deutschen Ordensobernkonferenz angehören.

Im September 2020 hatten die deutschen Bischöfe das seit 2018 bestehende System der "Anerkennungsleistungen" für Betroffene sexualisierter Gewalt grundlegend reformiert und eine "Verfahrensordnung zur Anerkennung des Leids von Missbrauchsopfern in der katholischen Kirche" erlassen. Der UKA gehörten zunächst vier Frauen und drei, später vier Männer aus den Bereichen Recht, Medizin und Psychologie an, im Januar wurde die Kommission um drei weitere Mitglieder aufgestockt, um schneller arbeiten zu können.

Frage: Das hieße, im bestehenden System auf möglichst hohe Beträge abzielen? 

Norpoth: Jedenfalls auf deutlich höhere Mindestbeträge. Die Bischofskonferenz will, dass die Einzelfallbewertung an den Schmerzensgeldtabellen in Deutschland hängt, die im internationalen Vergleich sehr niedrig sind. Das Instrumentarium ist also eigentlich nicht geeignet, um eine wirkliche Anerkennung des Leids aus sexualisierter Gewalt und des institutionellen Versagens zu leisten. Es geht nicht um die Tat selbst, im Sinn einer Entschädigungszahlung, sondern um die Anerkennung des Leids im Sinne der Tatfolgen. Das ist eine andere Wahrnehmung, die uns Betroffenen sehr wichtig ist. Im Regelfall hat jeder Betroffene von sexueller Gewalt negative finanzielle und ideelle Folgen, zum Beispiel durch nicht umsetzbare Berufswünsche oder andere gescheiterte Pläne. 

Frage: Was schlagen Sie dann konkret vor? 

Norpoth: Hier gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, die in der Regel mit Pauschalen einhergehen; entweder auf Tatebene, dann also wieder an den Kriterien der Istanbul-Konvention angehängt, oder aber man führt einen Sockelbetrag ein, der die grundsätzliche Haltung der katholischen Kirche spürbar deutlich macht, um zu sagen: Neben der individuellen Fallbewertung erkennen wir als katholische Kirche in Deutschland jedem Opfer sexualisierter Gewalt und Übergriffigkeit einen bestimmten Betrag zu. Diesen Betrag kann man dann so gestalten, dass er zusammen mit den auf Grundlage einer Einzelfallbewertung zuerkannten Beträgen die von den Bischöfen gewollte maximale Höhe von 50.000 Euro nicht überschreitet. Auf Grundlage des Tätigkeitsberichts lässt sich das leider nicht ausrechnen; insofern werden wir das im Gespräch mit UKA und DBK klären müssen. 

Frage: Das wäre aber eine deutliche Änderung. 

Norpoth:.Aber es wäre machbar, ohne das System zu sprengen. Man hätte auch schon vor der Gestaltung dieses Systems mit Betroffenen reden können und müssen. Dann müsste man jetzt nicht wieder an eine Überarbeitung. Der Betroffenenbeirat bei der Deutschen Bischofskonferenz hat sich im November 2020 konstituiert, kurz zuvor wurde das Anerkennungssystem durch die Herbstvollversammlung der DBK beschlossen. In der ersten konstituierenden Sitzung haben wir Bischof Ackermann schon mitgeteilt, dass dieses System Probleme mit sich bringen wird. Bei der erneuten Entscheidung ein Jahr später, dass es beim alten System bleibt, waren wir aber wieder nicht beteiligt. Ich halte das für einen fatalen Fehler. 

Frage: Haben Sie Hoffnung, dass es besser wird? 

Norpoth: Wenn ich nicht die Hoffnung hätte, dass wir etwas verbessern könnten, würde ich schon lange nicht mehr am Tisch sitzen. Wir hoffen, dass wir bald endlich zu Lösungen kommen. Gespräche um der Gespräche willen – diese Zeiten sind vorbei. Ich kann nur an jeden Bischof appellieren, Lösungen ins Auge zu fassen und sie mit uns gemeinsam zu finden – und dann auch umzusetzen. 

Von Felix Neumann