Ostdeutsche Kirche und Zivilgesellschaft gegen Neonazis

Kirche im Osten: Müssen es Rechtsextremen unangenehm machen

Veröffentlicht am 04.03.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Berlin/Dresden/Magdeburg ‐ Vor Kurzem warnte Brandenburgs Verfassungsschutz davor, dass westdeutsche Rechtsextremisten vermehrt in Gegenden in Ostdeutschland ziehen, wo es "keine aus sich heraus starke Zivilgesellschaft" gibt. Wie beurteilen ostdeutsche Kirchenvertreter diese Entwicklung? Und was kann dagegen unternommen werden?

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Jahrelang war der "Nazikiez" im Dortmunder Stadtteil Dorstfeld einer der Hotspots deutscher Rechtsextremisten. Führende Neonazis dominierten hier das Straßenbild, terrorisierten die Umgebung. Doch davon ist nicht viel übriggeblieben. In den vergangenen Monaten haben zahlreiche Rechtsextremisten die westfälische Großstadt verlassen – viele davon in Richtung Ostdeutschland. Auf diese Entwicklung, die in ähnlicher Weise auch in anderen westdeutschen Städten zu beobachtet ist, hat in der vergangenen Woche auch der Brandenburger Verfassungsschutz hingewiesen.

"Wir registrieren, dass führende Köpfe etwa der rechtsextremen Szene aus den alten Bundesländern, zum Beispiel aus Bayern und Dortmund, nach Brandenburg oder Sachsen gegangen sind", sagte der Leiter des Brandenburger Verfassungsschutzes, Jörg Müller, den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Neonazis kauften dort günstig Immobilien, veranstalteten Konzerte oder gründeten neue Gruppierungen. Dies, so Müller, sei ein gefährlicher Trend, da es in dünn besiedelten Regionen oftmals "keine aus sich heraus starke Zivilgesellschaft" gebe, die sich den Rechtsextremen entgegenstellen könne.

Regionen in Ostdeutschland als "Sehnsuchtsorte von Rechtsextremen"

Auch Vertretern der katholischen Kirche in Ostdeutschland ist diese Entwicklung  bekannt – als neu stufen sie den rechtsextremen Zug nach Osten aber nicht ein. "Wir beobachten seit einigen Jahren, dass es Regionen in Ostdeutschland gibt, die zu Sehnsuchtsorten von Rechtsextremen geworden sind", sagt etwa Susanne Brandes von der Katholischen Erwachsenenbildung (KEB) im Land Sachsen-Anhalt im Gespräch mit katholisch.de. Beispielhaft nennt sie die Kleinstadt Leisnig südöstlich von Leipzig. Hier habe es in den vergangenen Jahren einen vermehrten Zuzug von völkischen Siedlern gegeben.

„Zweifelsohne gibt es Regionen in Ostdeutschland, die durch ihre sehr schwache Infrastruktur besonders gefährdet sind für einen Verlust an Vertrauen in staatliche Institutionen.“

—  Zitat: Susanne Brandes

"Rechtsextreme bewerben diese Region in Mittelsachsen mit der Initiative 'Zusammenrücken in Mitteldeutschland' als einen Ort, an dem sie noch ungestört ihre Werte leben können und an dem ihre Kinder nicht mit vermeintlichen MigrantInnen oder Geflüchteten gemeinsam beschult würden", so Brandes. Vergleichbare Entwicklungen registriere man im Süden Sachsen-Anhalts in der Region Naumburg. "Darüber hinaus beobachten wir vermehrte Häuserkäufe zum Beispiel der 'Identitären Bewegung' und anderer rechtsextremer Wohnprojekte in Sachsen-Anhalt, zum Beispiel in Halle", betont die Expertin, die sich auch in der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus engagiert. Die Käufer seien meist rechte Investoren aus Westdeutschland und Österreich.

Ähnlich beurteilt die Situation auch Ulrich Clausen vom Bistum Dresden-Meißen. "Es ist eigentlich ein Prozess, der schon lange im Gange ist", sagt Clausen, der für die sächsische Diözese in der ökumenischen Arbeitsgemeinschaft "Kirche für Demokratie und Menschenrechte" tätig ist. Über zivilgesellschaftliche Akteure wisse man schon lange von den Zuzügen westdeutscher Neonazis in den Osten. Es sei gut, dass diese "alarmierende Situation" nun auch von Verfassungsschützern offiziell bestätigt werde. Offensichtlich scheine für den Verfassungsschutz bei diesem Thema eine Schwelle überschritten zu sein.

"Die Decke der demokratischen Zivilgesellschaft ist vielerorts dünn"

Wie der Brandenburger Verfassungsschutz warnen auch Brandes und Clausen vor den Konsequenzen des rechtsextremen Zuzugs für die oftmals immer noch schwach ausgebildete Zivilgesellschaft zwischen Ostsee und Erzgebirge. "Zweifelsohne gibt es Regionen in Ostdeutschland, die durch ihre sehr schwache Infrastruktur besonders gefährdet sind für einen Verlust an Vertrauen in staatliche Institutionen", so Brandes. Zudem beobachte sie, dass Menschen in Ostdeutschland politische Missstände teilweise zögerlicher benennten als in Westdeutschland. "Es gibt eine andere Prägung in Ostdeutschland, andere Mitgliedzahlen in Parteien und Vereinen. Die Decke der demokratischen Zivilgesellschaft ist vielerorts dünner und die Selbstverständlichkeit, sich einzumischen, fehlt", betont die Expertin. Wenn noch dazu Rassismus als Alltagskultur etabliert sei, sei es weitaus schwieriger, sich gegen Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit zu engagieren.

Auch Clausen verweist gegenüber katholisch.de auf die unterschiedliche Prägung von Ost- und Westdeutschen. Gerade den Menschen im ländlichen Raum der östlichen Bundesländer fehle jedwede Erfahrung: "Die perfiden Maschen der Rechtsextremen sind unbekannt und dazu kommt, dass sie erst einmal moderat auftreten." Viele Ostdeutsche sähen in den Zuziehenden zunächst keine Rechtsextremisten, sondern die nette Familie, den freundlichen Menschen. "Außerdem ist man in immer stärker entvölkerten Gegenden froh über jeden, der dazu kommt und dann auch noch die verfallende Immobilie übernimmt", erklärt der Experte.

Bild: ©dpa/Sebastian Willnow

Ist die ostdeutsche Zivilgesellschaft rechtsextremen Umtrieben (im Bild: rechte Demonstranten am 27. August 2018 im sächsischen Chemnitz) chancenlos ausgesetzt? Die kirchlichen Experten glauben nicht.

Er verweist zudem auf "gesellschaftliche Lücken" in der Jugendarbeit. Viele Jugendliche hätten im Osten gar nicht die Chance, eine Resilienz gegen demokratiefeindliche Strukturen zu entwickeln. Dadurch seien vor allem die ländlichen Regionen ein idealer Nährboden für rechtsextreme Ansichten. "Die Gefahr besteht auch und vor allem in einer schleichenden Verschiebung der sogenannten politischen Mitte auf rechte Positionen", warnt Clausen.

Chancenlos den neonazistischen Neubürgern aus dem Westen ausgesetzt ist die ostdeutsche Zivilgesellschaft nach Ansicht der beiden Experten dennoch nicht. Rechtsextremisten seien im Osten nur dort erfolgreich, wo sie auf bereits bestehende rechtsextreme Strukturen träfen, betont Brandes. Das habe sich etwa im sächsischen Risa gezeigt, wo es zugewanderten Rechtsextremen aufgrund fehlender "Vorstrukturen" schwergefallen sei, Fuß zu fassen.

"Zivilgesellschaft kann Regionen durch gezielte Proteste unattraktiv machen"

Wichtig sei zudem lautstarker Protest, denn Rechtsextreme etablierten sich insbesondere dort, wo man sie in Ruhe lasse. Wie man sich erfolgreich gegen unerwünschte Zuzügler aus der Neonazi-Szene wehre, habe unter anderem die sächsische Initiative "Keep together – Zusammen gegen Rechts" gezeigt, die durch massive Proteste unter anderem im Stadtrat von Bautzen ein von Rechtsextremen geplantes "Patriotisches Jugendzentrum" verhindert habe. "Zivilgesellschaft kann Regionen durch gezielte Proteste unattraktiv machen", ist Brandes überzeugt, die zudem auf eine andere Bewegung von West nach Ost verweist. Neben den rechtsextremen Zuzüglern, vor denen der Verfassungsschutz warne, kämen auch engagierte DemokratInnen, die den demokratischen Widerstand im Osten unterstützen.

Ulrich Clausen betont zudem die Bedeutung guter Bildungsarbeit. "Ich glaube, dass wir erkennen müssen, dass Demokratie tagtäglich neu erkämpft werden muss. Dazu braucht es gute Bildungsformate, die auch das praktische Engagement im Blick haben", betont er. Was daraus erwachsen könne, könne man etwa im sächsischen Ostritz sehen. Dort habe das Internationale Begegnungszentrum im Kloster Marienthal gemeinsam mit vielen anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren mit Friedensfesten deutliche Signale gegen rechtsextreme Umtriebe gesetzt. "Wir müssen es diesen Rechtsextremisten unangenehm machen und auf die Demokratie drängen", appelliert Clausen. Zudem müsse der wehrhafte Rechtsstaat auch die Grenzen gegen Neonazis aller Couleur durchsetzen.

„Viele Initiativen der Zivilgesellschaft bauen in dieser Hinsicht gerade auf uns als Kirche. Da sollten wir kooperieren und zusammenarbeiten – für Demokratie und eine freie Gesellschaft.“

—  Zitat: Ulrich Clausen

Und die Kirche – wie kann sie sich engagieren? Sie solle sich selbst als Teil der Zivilgesellschaft verstehen und für Demokratie und Menschenrechte einstehen, und zwar nicht nur in den Städten, sondern insbesondere auch im ländlichen Raum, rät Brandes, die bei der KEB in Magdeburg das Projekt "Kirche für Demokratie. Verantwortung übernehmen – Teilhabe stärken" leitet. Und weiter: "Die Grundlage dieses Engagements sollte dabei unser christliches Menschenbild sein: die Unantastbarkeit der menschlichen Würde muss stets handlungsleitend sein."

Den Auftrag für die Gesellschaft im Lichte des Evangeliums wahrnehmen

Als konkretes Beispiel nennt Brandes das Projekt "Kirche für Demokratie", das seit 2013 vom Bundesprogramm "Zusammenhalt durch Teilhabe" gefördert wird. Dessen Idee sei es, zivilgesellschaftliche Akteure als Orte der Demokratie und Vielfalt sichtbar zu machen und zu stärken. "Dafür haben wir 20 BeraterInnen ausgebildet, die die Stärkung demokratischer Strukturen in ihren Einrichtungen und Verbänden unterstützen und bei Fällen von Diskriminierung intervenieren und beraten können", so die Expertin. Besonders im Fokus stünden dabei ländliche Regionen. So unterstütze man eine katholische Familienferienstätte in Brandenburg, die in unmittelbarer Nähe eines Neonazi-Schulungszentrums liege und ermutige die Einrichtung, sich als zivilgesellschaftlicher Akteur zu positionieren.

Ulrich Clausen beklagt, dass die Kirche im Osten immer noch an der DDR-Geschichte "leide". Die Gläubigen hätten sich auch nach der Wende in den "inneren Kirchenraum" zurückgezogen. "Als Kirche will man mit den Rechten nichts zu tun haben. Die Problematik mit dem Rechtsextremismus wird verdrängt – in der Hoffnung, dass es uns nichts angeht. Diese Rechnung wird aber nicht aufgehen", warnt er. Vielmehr müsse die Kirche ihren Auftrag für und in die Gesellschaft im Lichte des Evangeliums wahrnehmen und leben; Kirchgemeinden könnten Kristallisationsorte für Demokratie sein. "Viele Initiativen der Zivilgesellschaft bauen in dieser Hinsicht gerade auf uns als Kirche. Da sollten wir kooperieren und zusammenarbeiten – für Demokratie und eine freie Gesellschaft", appelliert der Experte.

Von Steffen Zimmermann