Ein Unternehmensberater gibt Rat

Nach Strukturreformen: Sechs Tipps für das Führen in Großpfarreien

Veröffentlicht am 14.03.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Tübingen ‐ Überall ist die Rede von Projekten zur pastoralen Neuorientierung. Aber wie gestaltet man tiefgreifende Veränderungsprozesse im Kontext hierarchischer Machtstrukturen? Der Theologe und Unternehmensberater Tobias Heisig gibt Rat, wie Führung heute gelingen kann – auch in der Kirche.

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Wenn Menschen sich aus einem bestimmten Anlass zusammenfinden, bildet sich schnell jemand als Führungskraft heraus. In Abhängigkeit von Gruppengröße und Dauer können Führungsstrukturen entstehen. Manchmal sind es aber auch "Natural Leader", also Persönlichkeiten ohne offizielles Amt, die von den anderen als Führungskraft akzeptiert werden. Damit ist die Erwartung verbunden, dass Werte entstehen. In unserem Kontext nicht materielle Werte, sondern Ereignisse, durch die wir mit den drei Grundkonstanten kirchlichen Lebens in Kontakt kommen: Glaube, Liebe, Hoffnung. Solche Ereignisse können nicht hergestellt werden. Aber wir können sie sich ereignen lassen und uns diesen stellen. Damit wird deutlich: Führung meint einen Dienst, der sich nicht aus Titeln und Strukturen ergibt, sondern der auf das Informelle, Vorläufige und Ereignishafte ausgerichtet ist. Führung ist somit nicht zwingend an eine offizielle Funktion gebunden. Betrachten wir die wichtigsten Erfolgsfaktoren etwas näher:

1. Persönlich und warmherzig

Wenn der "richtige Draht" zwischen Menschen fehlt, wird jeder inhaltliche Austausch nahezu vollständig zerstört. Höchste Priorität hat deshalb die Gestaltung der Beziehungsebene. Führungskräfte müssen dafür sorgen, dass Menschen in der Kirche sofort die Chance auf einen gelingenden Kontakt haben – und zwar ohne Zugriff und in aller Freiheit. Es gilt, alle kirchlich Engagierten dabei zu unterstützen, dies im Alltag zu verkörpern. Dies ist deshalb so schwer, weil viele Menschen idealisierten Vorbildern hinterherlaufen und sich deshalb als defizitär erleben. Dagegen gilt: Nur wer wirklich lächeln kann und in Blickkontakt geht, kann führen. Gemeint sind nicht jene "Feelgood"- Manager, die viele lustige Geschichten erzählen, sondern solche, die ein warmherziges, von Aufmerksamkeit geprägtes Klima erzeugen – und die sich zugleich zurücknehmen. Denn wer sich selbst als charismatisch bewertet, agiert in der Regel viel zu dominant und kontaktarm, um andere in ihrer Selbstentfaltung zu unterstützen.

2. Handelnd und nicht-hierarchisch

Führungskräfte sollten fragen: "Welche Strukturen und Prozesse können wir gemeinsam schnell schaffen, damit etwas geschieht?" Hierarchische Auftritte müssen dabei vermieden werden. Hierarchien zerstören Kooperation und damit gemeinsames Handeln. Hierarchien führen dazu, dass sich die "Untergebenen" das Denken abgewöhnen. Wenn die obere Leitung (Hochstatus) immer das letzte Wort hat, kapitulieren die Menschen im Tiefstatus - "Es bringt ja sowieso nichts".

Wirksame Führung hingegen schafft schnell Rahmenbedingungen: Statt Gremienarbeit, temporale Umsetzung vor Ort. Statt zentraler Steuerung, Bestärkung zur Eigenverantwortlichkeit. Statt alter Rituale, neue Kreativität. Statt Monarchie, Netzwerk. Die kreative Gottesdienstidee – machen. Die alternative Kirchenführung – ausprobieren. Der Stand auf dem Marktplatz – umsetzen. Den Talkshow-Abend – organisieren. Den Gemeindetag zu biblischen Themen – durchführen.

3. Klar und verbunden

Wenn Konflikte vorhanden sind, wenn Fehler entstehen, wenn Ziele nicht erreicht werden - bringen Führungskräfte in solchen Situationen die Realität zur Sprache? Sprechen sie beschwichtigend oder anklagend? Wenn ich mich zum Beispiel ausklinken möchte, sage ich im Kirchenjargon: "Diese Beziehung belastet mich und tut mir nicht mehr gut." Was genau die Gründe sind, wird nicht gesagt. Das eigene Befinden und die eigene Emotion werden zum Argument gemacht. Diffuse Schuldgefühle können entstehen. Der "Zwang zum Frieden" (Fulbert Steffenski) führt zwar zu vielen Ich-Botschaften, aber nicht zu Klartext.

Ein Beispiel: Kürzlich berichtete ein Pastoralreferent, dass ihn nach jahrzehntelanger Praxis erstmals der Bischof persönlich angerufen habe. Er habe ihm mitgeteilt, dass dieser die Funktionsbezeichnung "Gemeindeleiter" nicht mehr verwenden solle. Das ist Klartext, ja. Aber aus der Distanz wirkt dieser autoritär. Klartext allein reicht nicht aus. Er hilft nur, wenn er in Verbundenheit erfolgt. In dem Moment, wo ich distanziert oder wütend bin, bzw. wenn ich von der anderen Person nichts halte, wird Klartext zur Abwertung. Besser wäre es gewesen, wenn der Bischof auf die rechtliche Problematik hingewiesen und entspannt zur gemeinsamen Suche nach einer Lösung eingeladen hätte. Den Kontakt hochfahren - aus einer Haltung der Würdigung dessen heraus, was der Pastoralreferent geleistet hat. Verbundenheit ist leistungsunabhängig.

Ein Mann sitzt vor einem Telefon und will telefonieren.
Bild: ©katholisch.de

Vorsicht bei Kommunikation über die Distanz: Hier kommt Klartext oft als Abwertung an.

4. Realitätsnah und problemorientiert

Psychologisch ist klar nachgewiesen: Wir überschätzen das, was wir gegebenenfalls verlieren könnten und wir unterschätzen das, was es zu gewinnen gibt. Das macht "Change" so schwierig. Der Wert kirchlicher Tradition ist damit nicht per se infrage gestellt. Aber dort, wo die Tradition der Weitergabe des Feuers entgegensteht, braucht es Wandel.

Woher kommt die Kraft dazu? De facto stärker aus einer Problemlage als aus einem Ziel oder einer Vision. Der Satz "Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann lehre die Sehnsucht nach dem Meer" (Saint-Exupéry) stimmt leider nicht für Veränderungsprozesse. Die Kraft zu Veränderungen kommt in der Regel aus Problemen, und zwar aus solchen, die von den Beteiligten als eindeutige und existenzielle Realität anerkannt werden. Hier liegt der Grund für neue Formen der Kooperation, wie sie sich positiv auf dem dritten Synodalforum gezeigt hat. Es hat lange gedauert, aber das ein existenzielles Problem besteht, ist nun allseits anerkannt. Ein Problem/die Realität ist das aktivierende Element, welches die kooperative Entwicklung von neuen Lösungen vorantreibt. Denn wenn ein Problem nicht als solches gesehen wird, braucht es auch keine Lösung. In der Alltagspraxis besteht ein wesentlicher Führungsfehler darin, dass "Lösungen" für Probleme implementiert werden, die die Betreffenden überhaupt nicht haben. So ist zum Beispiel die Schaffung von großen Seelsorgeräumen eine Lösung aus Sicht der Zentrale und nicht der Basis – die hat andere Probleme. Führung hat die Aufgabe, Probleme in den Fokus zu rücken, die noch nicht ausreichend im Bewusstsein sind. Ein gemeinsamer (emotionaler) Findungsprozess. Daraus entstehen dann kooperativ Lösungen. Denn dann wird der Beitrag für die anderen auch zum Beitrag für mich selbst. Egoismus und Altruismus fallen zusammen.

5. Eigenverantwortlich und mit Bordmitteln

Stephen R. Covey hat ein für die Praxis hilfreiches Modell vorgestellt, nach dem wir von drei "circles" umgeben sind. Der "circle of control" meint diejenigen Lebensbereiche, die wir unmittelbar gestalten, quasi "kontrollieren" können. Dazu gehören unter normalen Bedingungen das morgendlich Aufstehen, das Schreiben einer Email, der Gottesdienstbesuch usw. Der zweite "circle" ist der "circle of influence", also der Bereich, in dem wir beeinflussen, aber nicht direkt steuern können: Kindererziehung, Seelsorgegespräche, Führen. Und schließlich der "circle of concern": Hier können wir weder steuern noch beeinflussen: Gesetze, das Wetter, den Straßenbau, die Abschaffung des Zölibats …

Mit Bordmitteln zu agieren, meint, sich auf die beiden erstgenannten "circles of control" und "influence" zu fokussieren und den "circle of concern" als Kontextbedingung wahrnehmen, sich von diesem aber nicht bremsen lassen. In der Ortsgemeinde kann dies zum Beispiel bedeuten, den Fokus auf das zu legen, wo Wirkung unmittelbar möglich ist: Taufspaziergänge (Bistum Paderborn), Aktionen mit männlichen Flüchtlingen (Erzbistum Köln), Dreifach-Glauben.de (Geschichten über Gott), "Church goes pub" (Rotenburg an der Fulda) …. Gleichzeitig können wir versuchen, unseren "Influence" auszuweiten. Maria 2.0 hat es durch konkrete Aktionen ("circle of control") und tausende von Begegnungen ("circle of influence") geschafft, mit der Zeit von der Kirchenleitung ernst genommen zu werden (zunächst "circle of concern", dann "circle of influence"). Dies kann jedoch nur gelingen, wenn ich mit Vertreterinnen und Vertretern anderer Positionen verbunden bleibe. Denn nur in Verbundenheit besteht eine Chance, dass Argumente nicht nur Gegenargumente erzeugen. Wenn aber die Atmosphäre stimmt, sind Menschen bereit, sich selbst zu überzeugen ("circle of influence").

6. Angstfrei und von außen

Wer bei den Menschen sein möchte, muss "Outside-In" denken. Führungskräfte sollten Ängste dämpfen und Rückhalt geben, wenn das Fremde mit der Kirche in Berührung kommt. Nur wenn wir in der Lage sind, die in Begegnungen sichtbar werdenden Haltungen, Motive und Bedürfnisse auch als Bereicherung zu begreifen, kann mit Fernstehenden Berührung entstehen. Angstfreiheit in der kirchlichen Organisation selbst ist dabei die zentrale Kontextbedingung. So wurde die "Angstfreie Organisation" (Amy Edmondson) von Unternehmen längst entdeckt. Dass queere Menschen in der Kirche Angst haben müssen, zeigt, wie weit entfernt wir noch von diesem Anspruch sind. Glaube muss in diesem Zusammenhang deutungsoffen sein und der Vieldeutigkeit der Welt Rechnung tragen. Gemeinschaft ist nur so möglich. Die (vermeintliche) Klarheit in Glaubensfragen wird demgegenüber leicht zum gewaltförmigen Mittel der Ausgrenzung. Gerade der Glaube kann, wenn er mit Deutungsoffenheit einhergeht und sich seiner bleibenden Vieldeutigkeit stellt, zum gesellschaftlichen Feld gelingender Verbundenheit werden. Eindeutigkeit braucht es jedoch dann, wenn das oberste Kriterium, die Option Gottes für alle Menschen, infrage gestellt wird und Ausgrenzung erfolgt.

So unterstützen Führungskräfte, dass vor Ort angstfrei experimentiert und erkundet wird. Manöver im Grenzbereich stimulieren dabei neue Ereignisse, die wir als Glaubende deuten können. Stefan Kühl hat aufgezeigt, dass Illegalität hier durchaus "brauchbar" sein kann. Kriterium für die "Brauchbarkeit" der Illegalität sind das Evangelium und das Gemeinwohl. Die Bedienung von Einzelegoismen oder das Decken von Straftaten zählen nicht dazu. Führungskräfte ermutigen also, hinzuhören und im Zweifel zu tun. Vornehmste Aufgabe der Verwaltungsorgane von Kirche ist es dabei, sich auf diesen Dienst auszurichten; etwa in Form von Maßnahmen zur Entlastung der Hauptberuflichen in den Gemeinden, damit sie ihrer Führungsarbeit überhaupt nachkommen können. Und zur Unterstützung derjenigen, die sich in ihrer Freizeit engagieren.

Wirksame Führung agiert somit auf unsicherem Terrain. Sie fördert Offenheit und Verbundenheit. Sie zielt auf qualitatives Handeln und macht Dinge möglich. Sie ist nicht leistungsorientiert und nicht hierarchisch. Sie sorgt dafür, dass wir uns der Realität mit Hoffnung stellen. Alle dürfen sich dazu ermutigt fühlen.

Von Tobias Heisig

Der Autor

Tobias Heisig (geb. 1968), ist Theologe und Psychologe. Er arbeitet als Unternehmensberater in Tübingen.