Standpunkt

Von anderen Flüchtenden redet niemand mehr

Veröffentlicht am 10.03.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Die Bereitschaft zur Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine beeindruckt Stefan Kiechle. Doch er zieht auch einen Vergleich zu den Fluchtbewegungen der vergangenen Jahre, bei denen es Menschen schwerer hatten, in Europa aufgenommen zu werden.

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Westeuropa zeigt eine großartige Bereitschaft, flüchtende Menschen aus der Ukraine aufzunehmen – und damit, dass das humane und christliche Erbe Europas noch nicht verloren ist. Auch Polen und Ungarn sind bereit – wer hätte das vor wenigen Monaten gedacht? Ziemlich still geworden sind die Rechtspopulisten, die in vielen Ländern Europas so heftig gegen die Aufnahme von Migranten polemisierten. Sehr gut auch, dass Ukrainer sofort Aufnahme finden: ohne Visum oder Asylantrag, ohne lange Wartefristen und Arbeitsverbote.

Jedoch: Von anderen Flüchtenden redet niemand mehr. Was ist mit den Menschen aus Syrien oder aus Afghanistan, aus dem Jemen, dem Sudan, dem Kongo? Sie erdulden weiterhin unendliche bürokratische Prozeduren, zermürbendes Warten unter entwürdigenden Bedingungen und oft die drohende Abschiebung. Schon die Flucht selbst ist oft grausam, in Booten auf dem Mittelmeer, in Lagern… Werden diese flüchtenden Menschen nun vergessen? Fallen sie aus der europäischen Gastlichkeit heraus? Werden sie irgendwann zu Opfern des Ansturms ukrainischer Opfer?

Gefühlt stehen uns europäische Ukrainer näher als Flüchtlinge anderer Kontinente – sie sind ja Weiße und Christen wie wir. Außerdem bedroht der Ukrainekrieg auch Westeuropa, also uns selbst, sogar ziemlich direkt. Schließlich können wir im russischen Diktator direkt die Fratze des Bösen erkennen und benennen; wir sehen einen klaren und offensichtlich verstehbaren Feind. Für die Opfer von dessen Grausamkeit liegt Gastlichkeit nahe – und ist zurecht und dringend geboten. Hingegen zeigen uns arme Länder in fernen Kontinenten ein viel ferneres Elend, und wir verstehen diese Länder kaum, ihre Kulturen und Religionen, ihre oft wirre Politik – ist deswegen die Gastlichkeit ihnen gegenüber weniger geboten?

Wäre es nicht an der Zeit, in Deutschland und Europa einen radikal neuen Umgang mit flüchtenden Menschen – egal, woher sie kommen – zu entwickeln, und dafür eine neue Politik und neue Gesetze? Könnte der grauenhafte Krieg in der Ukraine zum Kairos werden, dass Europa in diesem Sinn sein humanes, christliches Erbe erneuert?

Von Stefan Kiechle SJ

Der Autor

Pater Stefan Kiechle SJ ist seit 2018 Chefredakteur der Zeitschrift "Stimmen der Zeit". Zuvor leitete er sieben Jahre die Deutsche Provinz des Jesuitenordens.

Hinweis

Der Standpunkt spiegelt ausschließlich die Meinung der Autorin bzw. des Autors wider.