"Christentum ist eine Perspektive und keine Retrospektive"

Ex-Ministerin Schavan ruft katholische Kirche zur Erneuerung auf

Veröffentlicht am 10.03.2022 um 12:40 Uhr – Lesedauer: 

Münster ‐ "Wir verwalten Antworten, die nicht mehr überzeugen, auf Fragen, die niemand mehr stellt": Die frühere Vatikan-Botschafterin und Bundesbildungsministerin Annette Schavan mahnt Reformen in der Kirche an.

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Die frühere Bundesbildungsministerin Annette Schavan mahnt die katholische Kirche zu mehr Reformbereitschaft. "Das Christentum ist eine Perspektive und keine Retrospektive", sagte die ehemalige Botschafterin beim Heiligen Stuhl am Mittwochabend im Sankt-Paulus-Dom in Münster. "Wir verwalten Antworten, die nicht mehr überzeugen, auf Fragen, die niemand mehr stellt." Stattdessen müsse die Kirche die neuen Fragen finden und sich von Gegenwart und Zukunft provozieren lassen. Schavan sprach bei einer Vortragsreihe zur Fastenzeit unter dem Motto "Mutig sein und Neues wagen – Aufbrüche in der katholischen Kirche".

Die CDU-Politikerin betonte, dass Erneuerung vor allem Wiedergewinnung von Vertrauen bedeute. "Autorität hat nur die Institution, der Vertrauen geschenkt wird." Die Kirche brauche eine Revitalisierung kleiner Einheiten. "Vielfalt hilft, das unentdeckte Potenzial der Kirche zu heben." Die Politikerin verwies auf die von Papst Franziskus ausgerufene Weltsynode. Bei Gesprächen zwischen Europäern, Lateinamerikanern und Afrikanern werde sich zeigen, welch großes Spektrum es in der Kirche gebe.

Den Reformprozess Synodaler Weg der katholischen Kirche in Deutschland bezeichnete Schavan als "konstruktive Provokation für den Vatikan und für die Kirchen auf anderen Kontinenten". Zeiten des Übergangs seien keine Zeiten der Resignation, mahnte sie. "Die Kirche der Zukunft ist keine im Klerikalismus festzementierte Kirche, sondern eine Kirche mit vielen Start-Ups." Vieles werde nicht in Rom entschieden, sondern in den Diözesen.

Schavan: Krieg und Corona sind Zeitenwende

Den Krieg in der Ukraine und die Corona-Pandemie bezeichnete Schavan als Zeitenwende. Ein Bruch des Völkerrechts durch Russlands Präsidenten Wladimir Putin zeige eine abgrundtiefe Verachtung für Grundlagen des freiheitlichen und friedlichen Zusammenlebens in der Völkergemeinschaft, sagte die Politikerin. Es sei erschreckend, aus dem Mund des Moskauer Patriarchen Kyrill I. zu hören, dass dies letztlich ein Krieg gegen den Westen, die Freiheit, die Demokratie und die westlichen Wertvorstellungen sei.

Die Corona-Krise sowie die Flutkatastrophe im vergangenen Sommer in Teilen Deutschlands hätten bereits Verunsicherungen und Ängste hervorgerufen, betonte Schavan. "Die Zeit der Pandemie kann auch ein Kairos, ein günstiger Augenblick sein, um die Tragfähigkeit unserer Wertvorstellungen in Kirche und Welt zu prüfen."

Schavans Vortrag bildete den Auftakt der diesjährigen geistlichen Themenabende zur Fastenzeit im Sankt-Paulus-Dom. In der kommenden Woche spricht der Bochumer Theologe Thomas Söding, Vizepräsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) und des Synodalen Wegs, über das Thema "Neue Wege bahnen. Das Apostelkonzil als Öffnung der Kirche". Am 23. März hält der Münsteraner Bischof Felix Genn einen Vortrag, am 6. April folgt der Kirchenhistoriker Norbert Köster. (tmg/KNA)