Versöhner oder Kriegstreiber? Vom Friedenspotential der Religionen
"Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden." Der Satz aus der Bergpredigt Jesu (Mt 5,9) kann als Kern christlicher Ethik gelten. Er ist Verheißung und Auftrag zugleich: Die sich für den Frieden einsetzen werden in Gottes Herrlichkeit leben – der Weg dorthin führt über das Gebot der Nächstenliebe, die uneingeschränkt gilt und sogar die Feinde einschließt.
Dem stehen die anderen Weltreligionen in nichts nach. Die jüdische Prophetie verheißt den Frieden der Völker untereinander und mit Gott als Ziel der ganzen Schöpfung: "Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Lanzen zu Winzermessern. Sie erheben nicht mehr das Schwert, Nation gegen Nation, und sie erlernen nicht mehr den Krieg" (Mi 4,3). Ebenso versteht sich der Islam als Friedensreligion: "O ihr, die ihr glaubt! Tretet allesamt ein in den Frieden (seid friedfertig). Und folgt nicht dem Teufel auf den Schritt", heißt es in Sure 2, die zentrale Glaubensaussagen versammelt und daher als "Koran im Kleinen" gilt. Und auch Buddhismus und Hinduismus fußen im Kern auf der sprichwörtlichen Goldenen Regel: Was du nicht willst, dass man dir tu', das füg' auch keinem andern zu.
Die Religionen als Wegbereiter des Friedens in der Welt? Diese Einschätzung wird nicht überall geteilt, eher herrscht in der medialen Öffentlichkeit, in zahlreichen Talkshows und Essays, aber auch im privaten Politikgespräch am Gartenzaun die gegenteilige Ansicht: Ohne Religionen wäre die Welt eine bessere! Um zu diesem Schluss zu kommen, muss man nicht erst die großen Religionskritiker vergangener Jahrhunderte wie Ludwig Feuerbach, Friedrich Nietzsche oder Karl Marx bemühen, die die Religion als Fortschrittshemmnis betrachteten und sie mit philosophischen und politischen Mitteln in ihre Schranken zu weisen versuchten.
Gewalt im Namen der Religion – damals wie heute
Es genügt ein Blick in die täglichen Nachrichten: Das Weltgeschehen ist geprägt von kriegerischen Auseinandersetzungen im Namen der Religion oder selbsternannter Gotteskrieger. Die Meldungen über fundamentalistischen Terror sind zur erschreckenden Normalität unserer Zeit geworden. Und selbst im Hintergrund des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine lassen sich religiöse Spannungen ausmachen, die zur Legitimation von völkerrechtswidrigem Handeln instrumentalisiert werden.
Das alles sind keine neuen Entwicklungen, die Geschichte ist voll von religiösen Konflikten – angefangen bei der kriegerischen Expansion des Islams über die blutigen Kreuzzüge zur vermeintlichen Verteidigung des christlichen Abendlands bis zu den Schrecken des Dreißigjährigen Kriegs, der Europa im Kampf um die wahre Konfession verwüstete. Und so sehr sich die verschiedenen Religionsführer heute bemühen, ihre Glaubensgemeinschaft als friedliebend und Frieden fördernd darzustellen: In den heiligen Schriften aller Weltreligionen findet sich neben den großen Friedensvisionen und dem Appell zur Versöhnung auch die Verherrlichung von Gewalt und Krieg – man denke nur an die Zerstörung der Stadt Jericho und die Ermordung all ihrer Bewohner im Auftrag des Gottes Israels (Jos 6) oder an die makabre Absichtserklärung Jesu, er sei "nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert" (Mt 10,34).
Stimmt es also: Liegt es im Wesen der Religionen, Kriege zu verursachen oder gewaltsame Konflikte wenigstens zu befeuern? Wäre die Menschheit ohne sie besser dran? Nicht unbedingt, sagt der Tübinger Friedens- und Konfliktforscher Markus Weingardt. Er hat sich auf die Rolle von Religionen in der Konfliktbewältigung spezialisiert und schreibt: "Wer Konflikte anheizen und Kriege führen will, braucht keine Religion zu ihrer Begründung. Es genügen durchaus auch säkulare Weltanschauungen, etwa Nationalismus und Faschismus, Ethnizismus, Imperialismus oder Kommunismus." All diese "Ismen" hätten den Hang zur Ab- und Ausgrenzung, von der aus es nur noch ein kleiner Schritt zur gewaltsamen Aggression sei. Das zeigten etwa die Millionen Kriegstoten des 20. Jahrhunderts, die nicht religiös motivierter Gewalt zum Opfer gefallen seien, sondern säkularen Ideologien, so Weingardt.
Der Friedensforscher hält außerdem fest: Wer Religionen nur als Kriegstreiber oder politische Brandbeschleuniger betrachtet, übersehe die andere Seite der Medaille – nämlich das große Friedenspotential der Glaubensgemeinschaften. Für Weingardt steht außer Zweifel, "dass viele Konflikte und Kriege weitaus blutiger verlaufen wären, ohne das Einwirken religiöser Friedensakteure". So habe etwa die katholische Laienbewegung Sant'Egidio 1992 am Zenit des Bürgerkriegs in Mosambik einen umfassenden Friedensvertrag vermittelt und während des grausamen Völkermords der Hutu-Mehrheit an der Tutsi-Minderheit in Ruanda (beide Ethnien sind Christen) hätten sich allein muslimische Gruppen der Gewalt verweigert und Tausende Verfolgte gerettet.
Politisches Vermittlungspotential der Religionen
Fälle religiöser Friedensimpulse sieht Weingardt aber nicht nur auf anderen Kontinenten: Auch die deutsche Wiedervereinigung wäre seiner Ansicht nach ohne die vermittelnde Position der evangelischen Kirche in der DDR nicht so friedlich verlaufen. Die Kirchengemeinden hätten damals ein Dach geboten, unter dem unterschiedliche oppositionelle Menschen und Gruppen zusammenkommen konnten. Und als im Herbst 1989 eine gewaltsame Niederschlagung der Demonstrationen zu befürchten war, hätten Kirchenvertreter als Vermittler zwischen Volk und Staatsgewalt gewirkt.
Aber wie kommt es, dass religiöse Akteure mitunter noch Erfolg haben, wo die politischen, ethnischen oder wirtschaftlichen Fronten längst verhärtet sind? Laut Weingardt genießen Religionsvertreter im Konfliktfall oft einen Vertrauensvorschuss: "Säkulare Kräfte – ob Politiker oder Nichtregierungsorganisationen – sind in der Regel erheblichem Misstrauen gegenüber ihren wahren, vielleicht versteckten Interessen ausgesetzt, vor allem wenn die Friedensakteure aus dem Ausland kommen oder von dort finanziert werden. Eine religiöse Motivation, Frieden zu stiften, weckt bei vielen hingegen Vertrauen." Dadurch würden sich Handlungsspielräume öffnen, die säkularen Akteuren oft verschlossen blieben, erklärt der Mitarbeiter der Tübinger Stiftung Weltethos.
Auf dieses friedensvermittelnde Potential von Religionen ist inzwischen auch die Politik aufmerksam geworden. So vollzog das deutsche Auswärtige Amt nach eigenen Angaben vor einiger Zeit eine "Öffnung der deutschen Außenpolitik für mehr Impulse aus der Zivilgesellschaft" – und meinte damit vor allem eine engere Zusammenarbeit mit den Religionen. Denn, wie es in einem Dokument des 2018 gegründeten Referats "Außenpolitik und Religion" heißt: "Religionsgemeinschaften sind die größten transnationalen zivilgesellschaftlichen Akteure auf der Welt. 84 Prozent der Weltbevölkerung bekennen sich zu einer Religion." Religionsvertreter hätten oft "ein gutes Gespür für Entwicklungen in ihrem Land und beeinflussen diese an vielen Stellen". Dieses konstruktive Potenzial von Religionsgemeinschaften wolle das Auswärtige Amt verstärkt nutzen und durch Tagungen, Austauschprogramme und finanzielle Hilfen unterstützen.
Zu den ersten Veranstaltungen, die unter diese Förderung fielen, zählte die zehnte Weltversammlung der Organisation "Religions for Peace" (RfP), die im August 2019 in Lindau am Bodensee stattfand. Damals kamen rund 1.000 Menschen aus über 100 Ländern zusammen, darunter Vertreterinnen und Vertreter von ungefähr einem Dutzend Religionen. Ziel der Versammlung war es, eine gemeinsame Friedensagenda zur Übernahme von Verantwortung in der Welt zu verabschieden. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier betonte bei der Eröffnung, es dürfe "uns, denen uns Religion und Glaube wichtig sind, nicht gleichgültig sein, wenn immer wieder viele Menschen zum Ausdruck bringen, dass Religion geradezu ein friedensverhinderndes, ja kriegsförderndes Phänomen sei." Die Bemühungen von "Religions for Peace" machten dagegen Ernst mit der Überzeugung, dass Religionen kein Anlass mehr für Unfrieden und Krieg sein dürften, sondern dass sie Werkzeuge des Friedens sein könnten und müssten, so Steinmeier.
Kriegspolitik unter dem Mantel religiöser Werte
Wie schnell diese Entschiedenheit zum Frieden jedoch bröckeln kann und wie bereitwillig religiöse Akteure sich auch heute noch vor den Karren machtpolitischer Interessen spannen lassen, zeigt die gegenwärtige Rolle des Oberhaupts der Russisch-Orthodoxen Kirche im Ukraine-Krieg. Während die überwältigende Mehrheit der Religionsführer weltweit den Angriff des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf einen souveränen Staat zutiefst verurteilt und ein sofortiges Ende der Kampfhandlungen fordert, will dem Moskauer Patriarch Kyrill I. noch nicht einmal das Wort Krieg über die Lippen kommen. Im Gegenteil verteidigte er Putins Einmarsch indirekt als Befreiungskampf gegen westliche Vereinnahmungsversuche der in der Ukraine lebenden Gläubigen durch "Gay-Pride-Paraden".
Von der jüngsten Aufforderung der deutschen und europäischen Bischöfe, Kyrill solle sich deutlich vom russischen Krieg distanzieren, dürfte sich dieser kaum beeindruckt zeigen. Wer auf ein spätes Einlenken des Patriarchen hofft, hat wiederum die andere, kampfbereite Seite der Religionsmedaille aus den Augen verloren: So unvorstellbar es für westliche Ohren klingen mag, für Kyrill scheint Krieg ein legitimes Mittel zu sein, um vermeintlich höhere Ziele zu erreichen. Neben einem Wertekampf gegen alles, was der Westen an Aufklärung, Liberalisierung und demokratischer Freiheit hervorgebracht hat – die "Kräfte des Bösen", wie Kyrill sie nennt –, liegen seinem Handeln klare geopolitische Überzeugungen zugrunde, wie die Theologin und Osteuropa-Expertin Regina Elsner zeigt.
In einem Beitrag für das "Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien" (ZOiS) beschrieb sie noch am Tag vor dem Überfall auf die Ukraine, wie sich die Nähe der Russisch-Orthodoxen Kirche zum russischen Militär unter ihrem Patriarchen Kyrill in den vergangenen Jahren deutlich verstärkt habe: "Die Kirche sieht sich nicht nur in der Pflicht, die Streitkräfte moralisch zu unterstützen, sondern sie versteht die Verteidigung der geistlichen und politischen Souveränität als organische Verbindung von Kirche und Militär im politischen Gefüge des Landes." Diese Vorstellungen schlössen die Gebiete der ehemaligen Sowjetunion ein und jegliche Freiheitsentwicklung nach westlichem Vorbild kategorisch aus, so Elsner. Dabei stelle die Kirchenführung "den Frieden durchaus in das Zentrum ihrer Erklärungen, allerdings verdrängt das Narrativ der Verteidigung jeden positiven, konstruktiven und diesseitigen Zugang zu diesem Frieden".
Der Moskauer Patriarch hat viele Unterstützer in seinen Reihen, doch bleibt seine kriegslegitimierende Rhetorik auch nicht unwidersprochen. So haben sich Anfang März rund 300 russisch-orthodoxe Geistliche mit einer Unterschriftenaktion gegen den Krieg und die Worte des Patriarchen ausgesprochen. Metropolit Onufrij, Oberhaupt der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche, die ebenfalls dem Moskauer Patriarchat untersteht, hat sich offen gegen Kyrill gestellt und ihn aufgefordert, bei Putin ein Ende des Krieges zu erwirken. Auch haben mehrere zu Moskau gehörende Diözesen in der Ukraine mitgeteilt, Patriarch Kyrills nicht mehr in der Liturgie zu gedenken – was einem Schisma mit ihrer Mutterkirche gleichkommt. Solche Proteste mögen zahlenmäßig gering sein, aber sie machen deutlich: Auch in der russischen Orthodoxie ist das Friedensbewusstsein nicht verstummt.
Letzter Trumpf: Fürsorge und Hoffnung für die Opfer
Indessen wird diskutiert, ob sich Papst Franziskus neben eindringlichen Friedensappellen im Ukraine-Krieg politisch entschieden genug positioniert. Macht er sich zum stillen Komplizen Putins, wenn er ihn nicht ausdrücklich als Aggressor brandmarkt, wie es Regina Elsner dem Papst vorwirft? Oder schafft Franziskus gerade durch seine diplomatische Zurückhaltung den Handlungsraum, den Markus Weingardt als besonderen Trumpf religiöser Vermittler charakterisiert?
Das Verhältnis der Religionen zum Frieden ist ambivalent. Sie haben Potential in beide Richtungen: Sie können Frieden stiften und Menschen dazu animieren, sich selbstlos für Unterdrückte einzusetzen. Aber ihre Wahrheits- und Machtansprüche können auch instrumentalisiert werden, um Gewalt und Krieg zu legitimieren. Und so hängt es an einzelnen Akteuren, ob sie dem eigenen Anspruch, Werkzeug des Friedens zu sein, gerecht werden. Gut, dass die Religionen deshalb noch einen weiteren zentralen Aspekt kennen: die Fürsorge für die Opfer von Gewalt und Unrecht – und die Hoffnung auf ihre Rettung. In der Jesuanischen Bergpredigt folgt dieses Trostversprechen direkt auf das Lob der Friedensstifter: "Selig, die verfolgt werden um der Gerechtigkeit willen, denn ihnen gehört das Himmelreich" (Mt 5,10).