Wie das Heilige Grab gleich mehrfach nach Europa kam
Jerusalem war in früheren Zeiten für viele Menschen unerreichbar. Es ging nicht, dass man sich wie heute für knapp vier Stunden in den Flieger setzt und relativ kostengünstig einige Tage im Heiligen Land verbringt. Eine solche Pilgerreise konnte sich nicht jeder leisten. Und wer die Heiligen Stätten live ansehen konnte, der gehörte meiste dem Adel an oder verfügte zumindest über ausreichend finanzielle Mittel. Doch die Menschen haben sich damit nicht zufriedengegeben. Frei nach dem Motto "Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt…" haben sie ein Stück Jerusalem einfach zu sich nach Hause geholt. Und zwar nicht irgendeinen Teil Jerusalems, sondern die wichtigste der Heiligen Stätten: das Grab Jesu. Zahlreiche Nachbildungen jener Rotunde, die sich in der Anastasis befindet und das Grab Jesu birgt, finden sich hier bei uns in Europa. Die Menschen haben Jerusalem einfach zu sich gebracht, mitten in ihren Orten und Kirchen etwas von der Heiligen Stadt erahnen lassen, die für sie unerreichbar war.
„In dieser Kirche kann die Predigt zur Not wegfallen, weil die Steine predigen.“
Eine solche Nachbildung des Heiligen Grabes befindet sich in der Stiftskirche St. Cyriakus in Gernrode. Der Schriftsteller Wilhelm von Kügelgen schwärmt über diese Kirche mit folgenden Worten: "Ich wünschte, ich könnte Dir die alte vom Markgrafen Gero erbaute Stiftskirche zu Gernrode zeigen, die ganz so wie sie war wiederhergestellt ist (…). In dieser Kirche kann die Predigt zur Not wegfallen, weil die Steine predigen. Das Herz wird himmelan gerissen." Schon vor der Jahrtausendwende hatte der Markgraf Gero jene Stelle roden lassen, um dort eine Burg und ein Damenstift zu errichten. In späteren Zeiten wurde die Kirche von einer reformierten Gemeinde genutzt, bevor sie profaniert worden ist.
Wann das Heilige Grab selbst in die Kirche gekommen ist, ist unsicher. Man vermutet jedoch, es sei in den Jahren 1060 bis 1080 eingebaut worden; es ist also wahrscheinlich der älteste Nachbau im deutschsprachigen Raum. Das Grab gleicht einem Kästchen, dessen Vorderseite reicht verziert ist. In der Mitte ist eine Frauengestalt abgebildet, wahrscheinlich handelt es sich um Maria aus Magdala, die in aller Frühe zum Grab kommt, um den Leichnam Jesu zu salben. Direkt über ihrem Kopf findet sich eine Darstellung des Osterlammes, das von zahlreichen Tier- und Pflanzengestalten umgeben wird. Die gegenüberliegende Seite des Grabes zeigt die Begegnung Mariens mit dem Auferstandenen. Über dem Eingang zum Grab ist ebenfalls eine Figur abgebildet, die jedoch durch eine Beschädigung keine Identifizierung mehr ermöglicht. Vermutlich könnte es sich um eine Darstellung des Christus Pantokrator gehandelt haben. Interessant ist hingegen das Innere des Grabes: Es handelt sich hierbei um eine beinahe exakte Nachbildung der originalen Grabkammer, wie sie in Jerusalem zu finden ist.
Ein Heiliges Grab für die Grablege der reichen Familie Fugger
Die Reise führt weiter nach Augsburg, und zwar in die Kirche St. Anna. Hier befindet sich nicht nur die Grablege der Familie Fugger, auch Martin Luther hat 1518 einige Tage im benachbarten Kloster gewohnt. In einer Seitenkapelle, die durch ein schweres Eisengitter abgetrennt wird, findet der Besucher eine Nachbildung des Heiligen Grabes. Schon aus dem Jahr 1508 hören wir in einer Überlieferung von "aine überköstlich grab, die begrebnuss unsers lieben Herrn Ihesu Christi, in mass und form wie es zu Ihresusalem sein solle". Ob sich der Baumeister Johann Holl dabei an Holzschnitten aus dem Pilgerbericht des Bernhard von Breidenbach orientiert hat, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Sicher ist jedenfalls, dass sich die Nachbildung architektonisch stark an orientalischen Vorbildern orientiert: Der Bau wird von einem Ziborium bekrönt, welches einen Raum unter sich birgt. Damit weicht die Nachbildung vom Jerusalemer Original ab, welches ja zwei Räume (nämlich die Engelkapelle und das Grab selbst) beherbergt. Vermutlich ist diese Ungenauigkeit aber dem Umstand geschuldet, dass der Platz in der Augsburger Kapelle einfach begrenzt war. Mit anderen Worten: Man konnte eben keinen detailgetreuen Nachbau errichten, weil es die Räumlichkeiten nicht hergegeben haben.
Auch in Südtirol, genauer gesagt in einem Ort im Pustertal, findet sich ein Heiliges Grab: in Innichen. Der Heilig-Land-Pilger Georg Paprion hat diese Nachbildung um das Jahr 1650 errichten lassen. Interessant am sogenannten "Außerkirchl" ist, dass es bereits in den Jahren 1633 nach einem anderen Vorbild gebaut worden ist, nämlich der Gnadenkapelle von Altötting. Ungefähr zwanzig Jahre später ist das Heilige Grab in das "Außerkirchl" gekommen. Wie in Jerusalem selbst handelt es sich um einen freistehenden Bau, der von einer Kuppel gekrönt wird. Neben dem Eingang, welcher in die Grabkammer hineinführt, sind die weinenden Frauen abgebildet. In der Grabkammer selbst, durch die man durch einen kleinen Vorraum, welcher an die Engelkapelle angelehnt ist, gelangt, findet sich ein Heiliggrab-Christus. Interessant ist, dass der Erbauer nicht nur die Grabesädikula nachbauen ließ. Diese ist vielmehr in einen Raum eingelassen, der sich architektonisch stark an die Jerusalemer Grabeskirche anlehnt. Der polygonale Bau besitzt zwei Emporengänge; geschmückt ist er mit den Reliefs der Apostel. Im Tambour über der Kuppel befindet sich eine Darstellung von Gottvater. Alles in allem fühlt man sich im Innicher "Außenkirchl" wie in die Jerusalemer Anastasis hineinversetzt: Georg Paprion hat nicht nur das Heilige Grab in seine Südtiroler Heimat gebracht, er hat vielmehr eine kleine Grabeskirche bauen lassen und es so seinen Innicher Mitbürgern ermöglicht, die Atmosphäre des heiligsten Ortes der Christenheit einzuatmen.
Zurück in Deutschland führt der Weg nach Eichstätt, genauer gesagt in das ehemalige Schottenkloster. Benediktiner aus Irland hatten sich hier niedergelassen und ein Kloster gegründet, dass erstmals 1166 urkundlich erwähnt wird. Im Inneren der Klosterkirche hatte der Dompropst Walbrun von Rieshofen ein Heiliges Grab erbauen lassen, das sich wohl auf das Ende des 12. Jahrhunderts datieren lässt. Es handelt sich dabei um einen schlichten Rundbau, der mit einem Ziborium bekrönt ist. Berichtet wird, dass beim Bau sogar die Originalmaße des Jerusalemer Grabes berücksichtigt worden seien. Zumindest hören wir von Heilig-Land-Pilgern aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, dass das Eichstätter Grab doch große Ähnlichkeit mit der Grabesädikula in der Anastasis besitze. Sehenswert ist die Anlage vor allem deshalb, weil es sich hierbei um den einzigen guterhaltenen Nachbau aus der Romanik handelt.
Insgesamt ist bemerkenswert, wie groß das Engagement in früheren Jahrhunderten war, die bedeutendste Kirche der Christenheit in die eigene Heimat zu holen. Nicht nur, dass man die Grabädikula nachgebaucht hat, also gewissermaßen das Zentrum der Anastasis. Vielerorts hat man sogar versucht, architektonische Details der Grabeskirche im Ganzen zu kopieren. Vor allem im Barock haben sich dann die sogenannten "Kulissengräber" entwickelt. Damit wurde es allen Kirchen ermöglicht, für die Kartage das Grab Jesu zu beherbergen. Selbst dort, wo die finanziellen Mittel nicht ausreichten, um das Grab nachzubauen, konnte man nun eine Kulisse aufstellen, durch die sich die Gläubigen mitten hinein in die Jerusalemer Grabeskirche versetzt fühlen konnten. Diese Begeisterung für die Heiligen Gräber flachte nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil ab. Vielleicht auch deshalb, weil es heute vielen Menschen möglich ist, selbst nach Jerusalem zu kommen und die Heiligen Stätten live zu besuchen.