"Putin ist unter rechten Christen zu einer Art Idealfigur avanciert"
Als Wladimir Putin im Morgengrauen des 24. Februar im russischen Staatsfernsehen über die Gründe für Russlands Angriff auf die Ukraine sprach, spielte das angegriffene Land selbst über weite Strecken gar keine Rolle. Stattdessen arbeitete sich der russische Präsident in einer Art Generalabrechnung am Westen ab. Volle zwanzig Minuten lang erklärte Putin wortreich, wen er als den eigentlichen Feind Russlands betrachtet: Die USA ("ein regelrechtes Lügenimperium"), die NATO ("nur ein Instrument der amerikanischen Außenpolitik") und die "unverantwortlichen Politiker im Westen", die ihr Militärbündnis bis an die Grenzen Russlands ausgedehnt hätten.
Dass Putin dem Westen ablehnend gegenübersteht, war zwar schon lange bekannt. Wie tief sein Hass inzwischen aber sitzt, wurde durch seine weithin als Kriegserklärung aufgefasste Rede noch einmal auf neue Weise deutlich. Und auch, dass sein Hass sich längst nicht mehr nur gegen die Politik und die Wirtschaft des Westens richtet. Das zeigte sich wie unter einem Brennglas im Mittelteil seiner Rede. Dort äußerte er mit Blick auf den "so genannten kollektiven Westen": "In der Tat haben die Versuche, uns für ihre Interessen zu missbrauchen, unsere traditionellen Werte zu zerstören und uns ihre Pseudowerte aufzuzwingen, die uns, unser Volk, von innen heraus zersetzen würden, nicht aufgehört – jene Haltungen, die sie bereits aggressiv in ihren Ländern durchsetzen und die direkt zu Degradierung und Entartung führen, da sie gegen die menschliche Natur selbst gerichtet sind."
Putin sieht einen moralischen und sittlichen Verfall des Westens
Um welche "Pseudowerte" es ihm ging, führte Putin zwar nicht weiter aus. Wer dem Kreml-Chef in den vergangenen Jahren zugehört hat, dürfte trotzdem sofort gewusst haben, was er meinte – nämlich die Akzeptanz von sexuellen Minderheiten, die Putin seit Jahren als Sinnbild für den von ihm diagnostizierten moralischen und sittlichen Verfall des Westens dienen.
„Insbesondere Putins Vorgehen gegen sogenannte 'Homosexuellen-Propaganda' löste unter rechten Christen große Begeisterung aus. Denn nach wie vor zählen Homosexualität und die 'Ehe für alle' zu ihren Kernfeindbildern.“
Dass der Krieg gegen die Ukraine tatsächlich auch ein Krieg gegen das westliche Lebensmodell ist, machte wenige Tage später auch Putins religiöses Alter Ego Kyrill I. deutlich. Der Moskauer Patriarch, der fest an der Seite des Präsidenten steht, nannte in einer Predigt am 6. März den Schutz der Gläubigen vor "Gay-Pride-Paraden" indirekt als Legitimation für den russischen Einmarsch in das Nachbarland. Seit acht Jahren werde versucht, "das Bestehende im Donbass zu zerstören", so Kyrill. In der südostukrainischen Region, die seit 2014 von russischen Separatisten kontrolliert wird, gebe es "eine grundsätzliche Ablehnung der so genannten Werte, die heute von denen angeboten werden, die die Weltmacht beanspruchen".
Auch wenn Putin und Kyrill mit ihren jüngsten Tiraden gegen den Westen wohl vor allem den Rückhalt in der Heimat propagandistisch befördern wollten – auch im Westen haben der Präsident und sein Patriarch in den vergangenen Jahren mit ähnlichen Aussagen durchaus Zustimmung gefunden. Auch unter Christen. "Putin ist unter manchen rechten Christen in den letzten Jahren zu einer Art Idealfigur avanciert", bestätigt die Publizistin Liane Bednarz im Gespräch mit katholisch.de. Der Teil dieses Milieus, der ausgeprägte Sympathien für Putin gezeigt habe, habe in ihm "einen Retter des christlichen Abendlands und Streiter gegen das, was man als 'dekadenten westlichen Liberalismus' verachtet" gesehen.
Homosexualität und "Ehe für alle" als Kernfeindbilder rechter Christen
Beispielhaft nennt Bednarz, die 2018 das Buch "Die Angstprediger" über die Unterwanderung von Gesellschaft und Kirchen durch rechte Christen veröffentlicht hat, Putins Vorgehen gegen die von ihm so genannte "Homosexuellen-Propaganda". Dies habe unter rechten Christen "große Begeisterung" ausgelöst, da Homosexualität und die "Ehe für alle" in diesem Milieu zu den Kernfeindbildern zählten. Zur Idealisierung des Kreml-Herrschers in diesem Milieu hätten zudem sein öffentlicher Schulterschluss mit Kyrill und seine eigene Inszenierung als frommer orthodoxer Christ beigetragen. Vor allem auf viele rechte Katholiken, so Bednarz, übe die Orthodoxie aufgrund ihrer Formstrenge und Pracht eine große Faszination aus.
Auch der Publizist Andreas Püttmann hat in den vergangenen Jahren mehrfach auf die Sympathien mancher Christen für Putin hingewiesen. Wenn es um den Kampf gegen den "Genderismus" und für "Familienwerte" gehe, scheue das christlich-konservative Milieu nicht die Nähe zu autoritären Mächten, heißt es in einem 2015 veröffentlichten Beitrag des Publizisten in der "Herder Korrespondenz". Trotz Russlands Menschenrechts- und Völkerrechtsverletzungen sehe dieses Milieu im Kreml-Chef einen Verbündeten für die Bewahrung abendländischer Traditionen. Eine Schlüsselrolle spiele hierbei die Homophobie, die sich als Brücke zwischen Putin und der religiösen Rechten im Westen bestens eigne.
In seinem Beitrag beschäftigte sich Püttmann ausführlich mit einem Kongress zum Thema "Große Familien und die Zukunft der Menschheit" im September 2014 in Moskau. Die Tagung, die kurz nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland stattfand, versammelte zahlreiche rechte Christen und Politiker, auch aus Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern. Bei der Veranstaltung wurde Russland laut einem Bericht der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" als letzte Hoffnung einer modernen, dem Sittenverfall anheimgefallenen Welt dargestellt; außerdem sei ein Grußwort Putins verlesen worden, in dem dieser eine "Erosion moralischer Werte" beklagt habe. Später habe ein orthodoxer Priester sein Referat über "Familienanthropologie" zudem zum Anlass genommen für eine Analyse des "Bürgerkrieges" in der Ukraine. Dieser sei ausgebrochen, weil die neuen Machthaber in Kiew die "religiösen Werte" des Landes verraten und eine Gay-Pride-Parade erlaubt hätten. Kyrill lässt grüßen.
Gabriele Kuby als prominenteste deutsche Stimme bei Moskauer Kongres
Die prominenteste deutsche Stimme bei dem Kongress war laut Püttmann die konservative katholische Publizistin Gabriele Kuby. Nach der Tagung veröffentlichte sie in der Wochenzeitung "Die Tagespost" einen euphorischen Kongressbericht und schwärmte darin unter der Überschrift "Die demografische Katastrophe abwenden" von "einem opulenten Buffet" und einer "grandiosen Show zwischen den drei Kathedralen des Kreml". Russlands Aggression gegen die Ukraine handelte Kuby in dem Artikel dagegen mit nur einem Satz ab ("Die Menschen in diesem Saal sind sich gewiss nicht einig in der Frage, wie das Handeln Putins im Ukraine-Konflikt zu beurteilen ist."). Gegenüber dem Internetportal kath.net verstieg sie sich zwei Wochen später sogar zu der Aussage: "Selbst wenn alle Schuld für den Ukraine-Konflikt auf Seiten Putins läge – was gewichtige Stimmen bezweifeln –, dürfte man dann nicht an einem Kongress teilnehmen, der eine positive Weichenstellung Russlands in der Familienpolitik signalisiert?"
„Die gesellschaftliche und innerkirchliche Frustration christlicher Fundamentalisten lässt diese in der Suche nach Verbündeten nicht wählerischer werden.“
Für Liane Bednarz ist Gabriele Kuby eine der prominenten Wortführerinnen des rechtskonservativ-christlichen Pro-Putin-Milieus. Kuby sei "ein gutes Beispiel dafür, wie man sich von Putin blenden lassen konnte, sobald er auf Familie machte", so die Publizistin gegenüber katholisch.de. Dass der Kreml-Machthaber und seine Frau sich bereits 2013 getrennt hätten und er uneheliche Kinder gezeugt habe, blende dieses Milieu "in der ihm eigenen Bigotterie konsequent aus".
Bednarz weist allerdings auch darauf hin, dass die Zustimmung rechtskonservativer Christen für autoritäre Regime und Herrscher längst nicht auf Putin beschränkt sei. Und auch Andreas Püttmann schrieb schon 2015: "Die gesellschaftliche und innerkirchliche Frustration christlicher Fundamentalisten lässt diese in der Suche nach Verbündeten nicht wählerischer werden". Und tatsächlich: Auch Donald Trump wurde während seiner Amtszeit als US-Präsident von großen Teilen der religiösen Rechten in den USA als vermeintlicher Schutzherr weißer Christen und ihrer erzkonservativen Weltsicht geradezu messianisch verehrt. In Europa ließ sich Ähnliches in den vergangenen Jahren mit Blick auf Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orbán und seine Unterstützung traditioneller Familie einerseits und seinen Kampf gegen "Homosexuellen-Propaganda" andererseits beobachten.
Ausgeprägte "politreligiöse Tendenz" rechter Christen
Rechte Christen hätten eine ausgeprägte "politreligiöse Tendenz", erläutert Bednarz dazu. Sie beurteilten Parteien und Politiker fast ausschließlich anhand gemeinsamer Feindbilder und blendeten alles andere aus. Wichtig sei für sie zudem die Haltung von Parteien und Politikern zur Abtreibungsfrage: "Wer gegen Abtreibung ist, wird in der Regel als Vorbild angesehen. Deshalb haben viele von ihnen Donald Trump so bewundert und hegen ausgeprägte Sympathien für die AfD." Putin ist demnach nur ein – allerdings prominenter – Vertreter einer globalen rechtspopulistischen Bewegung, für die rechtskonservative Christen nicht nur heimlich Sympathien hegen.
Immerhin: Seit Beginn des von der internationalen Staatengemeinschaft in seltener Einmütigkeit verurteilten russischen Angriffs auf die Ukraine hat zumindest die öffentlich wahrnehmbare Begeisterung rechter Christen für den Kreml-Herrscher erkennbar abgenommen. Von einer selbstkritischen Analyse der eigenen Rolle in den vergangenen Jahren als "fünfte Kolonne Moskaus" ist von den "selektiven christlichen Wertebewahrern" (Andreas Püttmann) bislang allerdings auch nichts zu hören.