Zwischen den 1960er-Jahren und dem 21. Jahrhundert

Glauben auf Augenhöhe: Jugendarbeit gestern und heute

Veröffentlicht am 25.05.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Die Welt verändert sich immer schneller, das merken vor allem junge Menschen. Doch manche existentiellen Fragen haben Kinder und Jugendliche in jeder Zeit. Zwei in der Jugendarbeit Aktive erzählen im katholisch.de-Doppelinterview, wie sich das Glaubensleben der Jugend verändert hat.

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Es geht um die gleiche Aufgabe, doch liegen 50 Jahre zwischen ihnen: Lea Franz (23) hat gerade ihr Lehramtsstudium abgeschlossen und ist Diözesanleiterin der Katholischen jungen Gemeinde (KjG) im Bistum Mainz. Der Pensionär Arno Stuppy (73) trat 1968 dem bei, was später die KjG werden sollte, und wurde Diözesanleiter im Bistum Speyer. Im Doppelinterview erzählen beide von der Jugendarbeit früher und heute – mit vielen Unterschieden, aber auch manchen Gemeinsamkeiten.

Frage: Jugendliche und Glaube – wie führen Sie das zusammen?

Franz: Die Form, wie Liturgie gelebt wird, ist zeitgemäß. Die Sprache muss passen und die jungen Menschen verstehen, worüber geredet wird. Wichtig finde ich auch, dass sie in die Gestaltung der Liturgie selbst eingebunden werden, zum Beispiel musikalisch. Nichts soll über ihre Köpfe hinweg entschieden werden, sondern sie sollen selbst mitentscheiden – das gilt für den Gottesdienst und alle anderen Themen, die der KjG wichtig sind.

Stuppy: Als wir 1968 in unserer Pfarrei mit der Jugendarbeit begonnen haben, gab es die KjG im heutigen Sinn noch gar nicht. Es gab die Katholische Jungmännergemeinschaft und die Katholische Frauenjugendgemeinschaft. Die beiden sind erst 1970 zur KjG fusioniert. Über Themen, wie Frau Franz sie gerade genannt hat, haben wir damals noch nicht nachgedacht. Wir hatten als Jugendliche überhaupt keine Ahnung, dass wir uns in der Kirche einbringen könnten. Unsere Jugendgruppe hatte sich gebildet, nachdem ein Jugendseelsorger mal einen Abend da war und uns etwas über Jugendarbeit erzählt hatte. Der erste Impuls hatte nichts mit Glauben oder Kirche zu tun, wir waren damals noch in traditionellen Verhältnissen mit Ministranten und dem üblichen Pfarreileben. Es gab aber keine speziellen Angebote für Jugendliche. Unser erstes Anliegen war also ein Freizeitangebot. Irgendwann hat das dann auch dazu geführt, dass wir Gottesdienste mitgestaltet haben.

Frage: Was haben Sie in den Jugendgruppen alles zusammen gemacht?

Stuppy: Wir hatten ein Jugendheim und es kamen Leute aus den drei Dörfern zusammen, aus denen unsere Pfarrei damals bestand. Der Alltag fand dann in kleinen Gruppen statt: Die einen machten etwas mit Kindern, die anderen was mit Jugendlichen oder jungen Erwachsenen. Zuerst ging es um die Freizeitgestaltung, also Wanderungen, Fußballturniere oder Tanzabende. Im Grunde haben wir das übernommen, was in den Dörfern gefehlt hat, weil es keinen anderen Träger für Jugendarbeit gab. Deswegen haben wir Sachen gemacht, die sich zunächst einmal nicht nach kirchlicher Jugendarbeit anhören.

Franz: Da gibt es viele Gemeinsamkeiten zu heute: Jugendräume oder Jugendkeller gibt es immer noch – und die sind für KjG-Gruppen weiterhin unglaublich wichtig. Durch die Veränderungen in der Pfarrei- und Kirchenstruktur verändert sich da aber viel und wir verlieren viele dieser Räume. Das macht es schwer, die jungen Menschen überhaupt noch an einem Ort zusammen zu bringen. Deswegen ändert sich die Art, wie wir Jugendarbeit machen. Vieles ist nicht mehr konkret vor Ort, sondern es geht nach Aktionen, also zum Beispiel einem Projekt über mehrere Wochenenden oder einem Zeltlager in den Sommerferien. Viele Gruppen versuchen aber auch immer noch regelmäßige Angebote aufrecht zu erhalten, also etwa einmal die Woche mit einer Altersgruppe etwas zu machen. Dazu gehören auch Gruppenstunden, die keinen spirituellen Aspekt haben, sondern wo die jungen Menschen ihre Lieblingsspiele spielen oder über die Schule, den Führerschein oder ihre Partnerschaft sprechen können.

Frage: Herr Stuppy, was waren denn damals bei Ihnen die Themen?

Stuppy: Die Hauptfrage war, wie man als Jugendliche zusammenkommen kann. Wer bietet etwas an, wo ich meine Freizeit sinnvoll gestalten kann? Wir haben später dann auch die Sternsingeraktion begleitet oder sogenannte Dritte-Welt-Andachten gestaltet, also über Projekte in der einen Welt gesprochen und uns da engagiert. Es gab beispielsweise die Möglichkeit, Waren aus Lateinamerika zu bekommen, die wir dann in der Gemeinde für den guten Zweck verkauft haben. Beladen mit den Schnitzereien, Stoffen und Perlenarbeiten sind wir mit Traktor und Anhänger in die Dörfer gefahren und haben den Leuten das angeboten. Damit wollten wir nicht nur Geld für die Länder sammeln, sondern die Menschen bei uns vor Ort auch an sie erinnern.

„In der Anfangszeit hatten wir nicht so ein politisches Bewusstsein. Erst später, als es die KjG gab, entwickelte sich ein stärkeres Verbandsbewusstsein.“

—  Zitat: Arno Stuppy

Frage: Frau Franz, wäre das auch heute noch eine KjG-Aktion?

Franz: Ich musste direkt an die faire Nikolaus-Aktion denken, bei der Jugendgruppen Nikoläuse aus fair gehandelter Schokolade verkaufen und in den Gottesdiensten vor oder nach Nikolaus verteilen. Das Geld fließt dann an Projekte in Osteuropa oder die lokale Tafel. Damit sollen Glaube und Spiritualität mit den Problemen der echten Welt zusammengeführt werden. Daneben ist die Bewahrung der Schöpfung ein wichtiges Thema. Viele Ortsgruppen beteiligen sich an Klimastreiks der örtlichen Schule oder in ihrer Kommune. Dazu ist durch den Krieg in der Ukraine friedensethische Arbeit in den Fokus gerückt. Da gibt es schon Überlegungen, wie wir in diesem Sommer bei Freizeiten oder in Gruppenstunden Menschen aus der Ukraine einbinden können – und es gibt viele Spendenaktionen. Dieser solidarische Gedanke ist immer noch ein wichtiges Thema.

Frage: Wie sah es eigentlich mit der Bewahrung der Schöpfung bei Ihnen aus, Herr Stuppy?

Stuppy: Vieles von dem, was Frau Franz da anführt, habe ich ähnlich erlebt – nur ist das heute alles viel professioneller. Anfangs war das mit dem Umweltgedanken bei uns nicht so präsent. Natürlich sind wir raus in die Natur gegangen und haben etwa den Wald als Freizeitraum genutzt. Aber diesen Druck wie heute, auf die Schöpfung aufzupassen, hatten wir nicht. Bei uns auf den Dörfern gab es noch unberührte Schöpfung, die man genießen konnte. Andererseits: Hätte es so etwas wie diese Nikolaus-Aktion damals gegeben, wäre das sicher auch bei uns anschlussfähig gewesen. Wir haben im Jugendheim eine Nikolaus-Aktion angeboten – ich selbst war der Nikolaus – und haben von den Eltern gepackte Nikolaustüten unter den Kindern verteilt. Heute hätte so ein Abend sicher ein ganz anderes Gesicht. Uns war damals wichtig, dass Kirche auch bei solchen kleinen Alltäglichkeiten eine Antwort geben kann.

Frage: Da zeigen sich ja schon unterschiedliche Schwerpunkte. Ist die Jugendarbeit mit den Jahren politischer geworden, weil solche Themen bei den Jugendlichen präsenter sind?

Stuppy: In der Anfangszeit hatten wir nicht so ein politisches Bewusstsein. Erst später, als es die KjG gab, entwickelte sich ein stärkeres Verbandsbewusstsein. Wir bezogen uns nicht mehr nur auf die Pfarrgemeinde, sondern auch auf den Verband. Es kamen neue Themen hinzu und die Jugendlichen sind politischer geworden. Dann haben wir auch Kinder eingeladen, sich zu engagieren und ihre Lebenswelt mitzugestalten.

Franz: Ich habe auch das Gefühl, dass die Verbandsidentität zu diesem Bewusstsein ein großes Stück beigetragen hat. Kinder und Jugendliche haben erfahren, dass ihre Stimme innerhalb der KjG zählt, sie ihre Leitung vor Ort wählen und auch auf höheren Ebenen mitbestimmen und eigene Themen einbringen können. Diese Befähigung der jungen Menschen hat dazu geführt, dass sie sich auch auf anderen Ebenen wie etwa der Kommunalpolitik interessieren. Sie haben das Gefühl, dass sie das können, dass sie gestärkt sind in ihrer Meinung und in der Fähigkeit, sich einzubringen und das auch einzufordern. Ich habe die KjG immer als politisch erlebt und schätze das sehr, das hat mich im Verband gehalten. Die jungen Menschen sind aber auch durch die heutige Zeit politischer: Durch Themen wie die Klimakrise oder die Flüchtlingsströme in den Jahren 2015 und 2016 haben die jungen Menschen zu so etwas eine Meinung und wollen sich einbringen. Der Krieg in der Ukraine führt nun dazu, dass sie vermehrt das Gefühl haben, politisch aktiv werden zu müssen – für ihre Mitmenschen und sich selbst.

Bild: ©Privat/Collage: katholisch.de

Arno Stuppy (l.) und Lea Franz stehen für unterschiedliche Zeiten in der Jugendarbeit.

Frage: Herr Stuppy, Sie sind im Umbruchsjahr 1968 in die KjG eingetreten. Sind die Umwälzungen dieser Zeit bei Ihnen auf dem Land nicht angekommen?

Stuppy: Das hat uns als Jugendliche auf dem Land nicht berührt. Die Fragen der 1968er waren nicht die Themen, die uns als Jugendliche damals interessiert haben. Es waren eher lokale Themen, die uns beschäftigten: Wie wir unsere Pfarrei mitgestalten wollen und welches Jugendangebot es etwa am Fronleichnamstag geben soll. Erst später hat die KjG-Arbeit dazu geführt, dass wir uns politisch einbringen wollten.

Frage: Das hat natürlich auch damit zu tun, wie Jugendliche sich selbst und ihren Glauben wahrnehmen. Wie nah oder fern standen und stehen die Jugendlichen Religion und Glauben?

Stuppy: Zu Beginn meines Engagements in der Jugendarbeit war für uns junge Menschen vieles in der Pfarrei Tradition. Wir gehörten dazu und waren ganz selbstverständlich katholisch.  Wir nahmen an den Gottesdiensten teil, andere Veranstaltungen gab es kaum.  Es ging nicht um einen Glauben, den man irgendwie begründen musste. In späteren Jahren habe ich in der Verbandsarbeit erlebt, wie nah junge Menschen an Religion und Kirche waren. Sie haben sich aus ihrem Glauben heraus in der Kirche und Gesellschaft und für die Welt engagiert.

Franz: Heute wird viel hinterfragt. Im Bistum Mainz wachsen viele Jugendliche in Städten auf, dort ist die Tradition nicht mehr so stark. Die Kirchengemeinde ist oft nicht das Zentrum der eigenen Wohnsiedlung und nicht der Ort, auf den sich alles fixiert. Es gibt Druck von den anderen Jugendlichen, die nicht katholisch sind, den eigenen Glauben zu begründen: Warum kannst du noch katholisch sein nach allem, was passiert ist? In den Familien wird der Glaube nicht explizit angesprochen, sondern ist einfach irgendwie da.

Aber die jungen Menschen beschäftigt das. Sie fragen sich: Warum wurde ich als Kind getauft, warum bin ich zur Erstkommunion gegangen – und möchte ich gefirmt werden? Wir unterstützen natürlich diejenigen, die sich dafür entscheiden. Vielerorts gibt es auch die Möglichkeit, sich im Verband firmen zu lassen, wenn Jugendliche zur örtlichen Pfarrei keine Bindung haben. Wir versuchen den jungen Menschen auf ihre Fragen Antworten zu geben – dafür gibt es bei uns geistliche Leitungen, die die Gruppen begleiten. Die Mischung aus dem Kontakt mit Laien und Priestern macht es für die Jugendlichen attraktiv, sich über den Glauben und ihre Sorgen, Bedenken und Kritikpunkte auszutauschen. Da gibt es eine große Bandbreite: Manche Gruppen nehmen gern am Leben ihrer Gemeinde teil, andere feiern lieber Jugendgottesdienste am Lagerfeuer.

„Im Bistum Mainz wachsen viele Jugendliche in Städten auf, dort ist die Tradition nicht mehr so stark. Die Kirchengemeinde ist oft nicht das Zentrum der eigenen Wohnsiedlung und nicht der Ort, auf den sich alles fixiert.“

—  Zitat: Lea Franz

Frage: Wie ist denn die Beziehung der Jugendarbeit zur Institution Kirche?

Franz: Die KjG ist gerne katholisch und gern kirchenpolitisch. Wir haben eine Meinung zu dem, was in der Kirche passiert, wollen diese Kirche aber auch in Zukunft als ein Teil von ihr mitgestalten. Der KjG wird immer wieder vorgeworfen, das "K" in ihrem Namen hätte keine Berechtigung mehr. Doch das hat es auf jeden Fall noch! Wir sind ein katholischer Verband und schätzen die katholische Kirche. Besonders wichtig ist, dass es eine Weltkirche ist und man überall die Beheimatung des Katholischen finden kann. In jedem Land ist es die gleiche Liturgie, die verbindet – auch die jungen Menschen.

Es gibt aber auch Punkte, an denen wir uns als junge Menschen reiben: Wenn es um die Gleichberechtigung der Geschlechter oder Schutzräume für Kinder und Jugendliche geht. Das sind kritische Punkte, aber wir möchten keinesfalls aus dem Dialog aussteigen. Nur gemeinsam können wir diese Themen angehen und schauen, wie Kirche in Zukunft noch gerechter für alle sein kann.

Stuppy: Bei uns haben sich damals gleichzeitig wie in unserer Pfarrei auch in der Nachbarschaft Gruppen verbandlich organisiert. Es war da schon von Vorteil, aus der eigenen Pfarrei herauszukommen und auf Jugendseelsorger zu treffen, die etwa in Sachen liturgischer Gestaltung offener waren als der Ortspfarrer. Da haben wir wahrgenommen, dass der Glaube auch etwas Spritziges sein und nicht nur in der eigenen Pfarrkirche gelebt werden kann. Mit anderen Jugendlichen gemeinsam konnten wir den Glauben viel intensiver leben als im Gemeindegottesdienst, wo wir nur das wahrgenommen haben, was aus Kanzel und Chorraum kam. Allein, dass es Gottesdienste gab, wo wir nicht in der Bank, sondern in der Runde oder auf dem Boden saßen, war für uns schon etwas Besonderes. Solche Eindrücke haben den Glauben vertieft.

Frage: Welche Perspektive haben die Jugendlichen auf den Glauben und was bedeutet das für die Zukunft?

Stuppy: In meiner Zeit habe ich (immer) erlebt, dass Jugendliche ihren Glauben mit anderen leben wollten. Das, was Frau Franz zum "K" in der KjG gesagt hat, kann ich nur unterschreiben. Die KjG war für viele Jugendliche der Ort, wo wir Glauben leben konnten – aber oft weniger auf der lokalen Ebene, sondern vielmehr im Austausch mit Jugendlichen aus anderen Orten auf höheren Ebenen, etwa eines Dekanats. Dort war das Feuer viel stärker, weil da nur diejenigen da waren, die sich davon auch wirklich angesprochen fühlten.

Franz: Ich mache auch die Erfahrung, dass diejenigen, die sich über ihre Pfarrgemeinde hinaus engagieren, sich stärker mit der katholischen Kirche identifizieren. Sie setzen sich intensiver mit ihrem Glauben und den damit verbundenen Themen auseinander. Für diejenigen, die in die Gruppenstunden vor Ort kommen oder mal auf ein Zeltlager mitfahren, ist das ein seichter Einstieg in das Thema Glaube. Denn der ist immer Thema, sei das im Gebet vor dem Essen, im Gottesdienst auf dem Zeltlager oder bei einem Abendimpuls am Lagerfeuer. Die Jugendlichen können sich genau dann auf den Glauben einlassen, wenn es für sie passt. Wichtig ist, dass die Jugendlichen dem Glauben auf Augenhöhe begegnen und ihre Räume selbst gestalten. Das ist auch für die Zukunft zentral: Die Menschen vor Ort müssen verstehen, dass junge Menschen ihren Platz in der Kirche haben und nicht nur die Zukunft sind, sondern auch die Gegenwart. Sie sind schon jetzt wichtig, nicht erst in 15 Jahren, wenn sie in den Pfarrgemeinderat gewählt werden können. Auch im Alter von acht oder neun Jahren brauchen sie einen Platz – räumlich, personell und finanziell.

Von Christoph Paul Hartmann