Münchner Gutachten deutet auf staatliche Zurückhaltung hin

Anwalt: "Wohlwollen" staatlicher Justiz gegenüber kirchlichen Tätern

Veröffentlicht am 04.05.2022 um 12:53 Uhr – Lesedauer: 

München ‐ Hielt sich die staatliche Justiz bei kirchlichen Missbrauchsfällen zurück? Diesen Eindruck machen die Akten, die für das Münchner Missbrauchsgutachten ausgewertet wurden. Einer der beteiligten Anwälte sieht hier noch Bedarf an Aufklärung.

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Der am Münchner Missbrauchsgutachten beteiligte Rechtsanwalt Martin Pusch fordert eine Überprüfung des Handelns der staatlichen Justiz in kirchlichen Missbrauchsfällen. Gegenüber dem Bayerischen Rundfunk sagte Pusch am Dienstag, dass bei der Sichtung der Akten für das Gutachten durch die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl zwar nur wenige Dokumente zu staatlichen Strafverfahren gegen beschuldigte Kleriker aufgetaucht seien. "Bei diesen Dokumenten ist für uns der Eindruck entstanden, dass man gegenüber kirchlichen Missbrauchstätern mit einem gewissen Wohlwollen agiert hat", so der Anwalt.

Auf Seiten der staatlichen Justiz hätten die Gutachter "in allen Stadien eines Strafverfahrens" ein "Wohlwollen" gegenüber kirchlichen Beschuldigten festgestellt, "also beginnend mit der Einleitung bis hin zur Strafvollstreckung", betonte Pusch. So seien Fälle aufgetaucht, in denen auf die Vollstreckung von Untersuchungshaft verzichtet worden sei, da man Verdächtige auch im Kloster unterbringen könne. Dies sei auch geschehen. "Wir halten es daher für einen interessanten Aspekt, der Frage nachzugehen, ob es denn eine generelle Privilegierung gab", so Pusch weiter.

Kein strafrechtsfreier Raum für die Kirchen

Prinzipiell bremse das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen eine staatliche Strafverfolgung aber nicht aus. Es gebe "keinen strafrechtsfreien Raum" für die Kirchen. Kirchliche Strafverfahren ersetzten nicht staatliche, sondern ergänzten sie. Sie könnten auch "durchaus sinnvoll und nützlich sein, solange eben nicht der Eindruck entsteht, dass dadurch das staatliche Strafmonopol untergraben wird", betonte der Jurist. Es gebe aber auch systemische Mängel bei kirchlichen Verfahren, insbesondere einen institutionalisierten Interessenkonflikt, wenn Priester über Priester, oft aus derselben Diözese, urteilten. Auch die Rolle von Opfern müsse überdacht werden. Anders als das staatliche Recht sehe das kirchliche für sie nur die Rolle als Zeuge, nicht als Nebenkläger vor. Rechte auf Beweisanträge oder Akteneinsicht fehlten. "Sie sind also letztendlich wieder nur Objekt fremder Macht und werden nicht mit ihren eigenen Bedürfnissen und Nöten wahrgenommen", so Pusch.

Die Münchner Kanzlei WSW hatte Ende Januar ihr Gutachten zum sexuellen Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker sowie hauptamtliche Bedienstete im Bereich der Erzdiözese München und Freising im Zeitraum von 1945 bis 2019 vorgestellt. Das Gutachten stellte bei allen Erzbischöfen im betrachteten Zeitraum Fehlverhalten in unterschiedlichem Ausmaß fest, darunter insgesamt 42 Fälle bei noch lebenden kirchlichen Verantwortungsträgern. Die Gutachter ermittelten bei ihrer Prüfung 235 mutmaßliche Täter. Davon sind 173 Priester gewesen. Die Zahl der Geschädigten lag bei 497. (fxn)