Passionierte Kritik an Kirche und Krieg: Die Premiere in Oberammergau
"Dieser Jesus wird bald vergessen sein", murmelt der römische Soldat Flavius vor sich hin, als das Todesurteil über diesen aus Nazareth stammenden Unruhestifter gesprochen ist. Doch mehr als 2.000 Jahre später wird über die Botschaft dieses Christus, der wie ein Verbrecher gekreuzigt wurde, noch immer diskutiert: Kann sie wirklich gelebt werden – die von ihm propagierte Nächsten-, ja gar Feindesliebe und der Aufruf zur Friedfertigkeit?
Mit ihrem 1633 in Pestzeiten gegenüber Gott gemachten Versprechen, regelmäßig diese "größte Geschichte aller Zeiten" aufzuführen, wenn kein Mensch mehr sterbe, haben die Oberammergauer Maßstäbe gesetzt. Mit zweijähriger Corona-Verspätung fand jetzt die Premiere der 42. Passionsspiele statt. Das sonnige Wetter spielte mit auf der Freilichtbühne samt zirpender Vögel. Zum vierten Mal führt Christian Stückl (60) Regie und ließ zuvor wissen, dieser Jesus sei ein "Verzweifelter an der Welt; vielleicht gilt das im Augenblick auch für mich."
Sätze klingen hochaktuell
Corona, eine in ihren Grundfesten durch die Missbrauchsfälle erschütterte Kirche und seit Februar ein Krieg auf europäischem Boden – all dies geht auch an ihm nicht spurlos vorüber. Den Text für das Spiel hat er schon früher geschrieben; doch die Sätze über Krieg und Widerstand, den Judas von Jesus gegenüber den Römern fordert, weil sie das Volk der Juden drangsalieren, klingen angesichts der Nachrichten aus der Ukraine einleuchtend. Man empfindet Sympathie für diesen politischen Apostel. Man kann doch nicht noch die rechte Wange hinhalten, wenn einem auf die linke geschlagen wurde.
Cengiz Görür, der als erster Muslim diese Hauptrolle zugesprochen bekam, spielt den Judas mit großer Leidenschaft. Die Emotionswechsel zwischen kämpferischem Zeitgenossen und enttäuschtem Anhänger, der Verrat am Freund begeht, gelingen ihm. Jesus weiß um beider Bestimmung. Und so ist es kein Judas-, sondern ein Jesus-Kuss, mit dem sich der Herr ausliefert. Frederik Mayet, der zum zweiten Mal nach 2010 Jesus verkörpert, geht mit Herzlichkeit auf Arme und Ausgestoßene zu. Nachdem er mit dem Esel in Jerusalem eingezogen ist, herzt er Kinder und lässt seine Apostel Brot verteilen.
Stefan Hageneier hat sich für ein "eher düsteres" Bühnenbild in erdfarbenen Tönen samt dazu passenden Kostümen entschieden. Die in eine große Tempelanlage eingebetteten Szenen erhalten ihre Farbkleckse, wenn wie in einem Guckkasten für kurze Zeit die Lebenden Bilder zu sehen sind. Dabei stellen die Beteiligten in stiller Pose eine Geschichte aus dem Alten Testament wie etwa den Tanz ums Goldene Kalb dar – eine innere Reflexion Jesu auf die ihm bekannte Schrift.
Längst ist es Stückl gelungen, die Judenfeindlichkeit aus dem Passionsspiel herauszufiltern. Pilatus (Anton Preisinger) kommt als der brutale Statthalter rüber, der er geschichtlich gewesen sein soll. Ansonsten wird ein innerjüdischer Konflikt über einen Störenfried deutlich, dessen Wirken den führenden Priestern missfällt. Wenn sie sich mit Kaiphas an der Spitze über den Galiläer aufregen, fühlt man sich an innerkatholische Konflikte dieser Tage erinnert mit erbittertem Streit über mögliche Reformen.
In Oberammergau ist man weiter. Würde nach wie vor ein frommes Spiel wie vor 50 Jahren gezeigt, wäre das Interesse wohl gering. So aber schafft es Stückl, mit seinem Team ein buntes Publikum an Vertretern aus Religionen, Politik, Kunst und Gesellschaft zu versammeln, von denen viele längst den Kirchen den Rücken gekehrt haben dürften.
Ein Scheibchen zum Abschneiden
Doch sie lassen sich ein auf ein mehr als fünf Stunden dauerndes Stück, das Längen haben mag, aber von der großartigen Musik von Chor und Orchester unter der Leitung von Markus Zwink getragen wird. Eine "Predigt" der besonderen Art, von der sich viele Priester zumindest ein klitzekleines Scheibchen abschneiden könnten, wie es ein Zuschauer am Ende formuliert und dafür viel Zustimmung erntet.
"Keiner von uns hat das Gefühl, wir müssen die Kirche vertreten", sagte Mayet vorab. Was in Oberammergau aber seit 400 Jahren passiere, sei eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Geschichte und der Botschaft von Jesus. Leider habe die Kirche sehr viel an Glaubwürdigkeit verloren und schaffe es gerade nicht, eine solche Begeisterung zu wecken. Den Oberammergauern gelingt dies, gemessen am Applaus.
Es ist Maria Magdalena (Barbara Schuster), die allen verkündet, dass der Erlöser lebt. "Glaubt an das Licht, damit ihr Kinder des Lichtes werdet!" versichert der Engel, während sich das Volk mit brennenden Kerzen einfindet. Der Auferstandene erscheint nicht mehr. Allein das in einer Schale lodernde Feuer erleuchtet am Ende das dunkle Theater.