Botschafter und Lobpreisende in neun Chören

Mittler aus dem Unsichtbaren: Die Engel im Christentum

Veröffentlicht am 19.06.2022 um 12:10 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Engel nehmen im Christentum ganz unterschiedliche Aufgaben wahr. Sogar eine eigene theologische Disziplin widmet sich ihrer Erforschung. Doch was sind Engel wirklich – und ist es heute noch hilfreich, sich mit ihnen zu beschäftigen? Ein Streifzug durch Vergangenheit und Gegenwart.

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Da gibt es diese zwei etwas gelangweilten Engelchen, die zu Füßen der Muttergottes sitzen. In der Darstellung der Sixtinischen Madonna von Raffael sehen sie eher wie zwei kleine Kinder aus, die gleich etwas ausfressen werden. Da ist aber auch der Erzengel Michael, der im Jüngsten Gericht von Rogier van der Weyden die Seelen wiegt und damit abmisst, wer ins Himmelreich und wer in die ewige Verdammnis kommt. Zwischen diesen beiden Polen finden sich dann noch die allgegenwärtigen Engel auf Altären, Adventskalendern oder Windlichtern – nicht zu vergessen die kitschigen Gebetsbildchen mit Schutzengeln. Engel finden sich in den verschiedensten Zusammenhängen, bleiben aber vielen Menschen über ihre dekorative Funktion hinaus rätselhaft.

Was Engel eigentlich sind, sagt schon ihr Name: Der griechische "Angelos" ist der Bote wie auch die Botschaft, daher auch "Evangelium": "Gute Botschaft". Hier überbringt also jemand etwas – und das seit Jahrtausenden. Himmlische Botenfiguren hatten schon die Alten Ägypter, Assyrer und Perser, auch in babylonischen Königspalästen hat man Abbildungen von ihnen gefunden. Später im antiken Griechenland sind sie dann Wächter im Olymp, von denen schon der Dichter Hesiod 700 Jahre vor Christi Geburt erzählt. Doch auch hier gibt es Mittler. Platon etwa schreibt, dass eine Aufgabe des Gottes Heros darin besteht, den Göttern die Opfer der Menschen zu überbringen und den Menschen wiederum die Antwort der Gottheiten mitzuteilen.

Durch diese zahlreichen Ursprünge haben es Engel in alle monotheistischen Religionen geschafft und wurden dort auf jeweils eigene Art und Weise ausgeformt. So steht in der Kabbala des Judentums etwa jedem Menschen je nach Tag und Stunde seiner Geburt ein bestimmter Engel zur Seite. Zudem berühren Engel die Stirn aller Neugeborenen, damit sie die Wahrheit vergessen. Denn wenn sie sie wüssten, könnten sie das Leben nicht ertragen. Im Islam gibt es die Vorstellung, dass jeder Mensch auf seinen beiden Schultern jeweils einen Engel sitzen hat, von denen einer auf der rechten alle guten, der andere auf der linken wiederum alle schlechten Taten genau notiert.

Engelsleiter und Verkündiger Jesu

In der Bibel kommen Engel ebenso immer wieder vor: Sie drängen Lot und seine Familie aus der Stadt, bevor Sodom und Gomorra von Gott zerstört werden, Jakob träumt von der mit Engeln besetzten Himmelsleiter, später ringt er mit einem Engel. Ein Engel verkündet Maria die Geburt Christi, Engel singen über der Krippe, sitzen am offenen Grab und sind Boten der Apokalypse.

Von dieser Grundlage aus hat sich schon in den ersten Jahrhunderten des Christentums eine Systematik und Hierarchie der Engel entfaltet. Bis heute wegweisend ist hier die Arbeit eines Autoren aus dem Anfang des 6. Jahrhunderts, der sich Dionysius Areopagita nennt. Dionysius Areopagita war der Besitzer des Areopags in Athen, also des Tagungsorts Obersten Rats der Stadt. Dionysius wurde vom Apostel Paulus zum Christentum bekehrt und später zweiter Bischof von Athen. Der Autor Dionysius Areopagita ist allerdings nicht dieser Wegbegleiter des Paulus, er macht sich seinen Namen nur zu eigen, um sich in dessen Tradition zu stellen. Deshalb wird er auch Pseudo-Dionysius Areopagita genannt. Dieser Dionysios trug die in der Bibel verstreuten Angaben zu Engeln zusammen und schrieb "De Coelesti Hierarchia" (Über die himmlische Hierarchie). Darin hält er fest: Engel sind reine Geistwesen, haben also zwar einen Geist, aber keinen Körper. Deshalb sind sie für Menschen in der Regel unsichtbar, können ihnen aber erscheinen, etwa in Form eines anderen Menschen, aber auch als Naturphänomen.

Die Verkündigung Mariens durch den Engel des Herrn.
Bild: ©Renáta Sedmáková/Fotolia.com

Engel überbringenn immer wieder Botschaften, zum Beispiel, dass Maria den Sohn Gottes gebähren wird.

Laut Dionysos sind Engel barfüßig, das steht dafür, dass sie ungebunden und entscheidungsfrei sind. Sie tragen ein Gewand in den Farben des Feuers und ähneln in ihrem Aussehen Priestern und Diakonen. Schon bei Dionysos ist der Gedanke an Engel mit dem Bild der Dynamik verbunden: Sie sind durch ihre Nähe zu Gott immer in einem Prozess der Läuterung, Erleuchtung und Vervollkommnung. Durch das göttliche Licht haben sie zudem eine höhere Fähigkeit zur Erkenntnis als Menschen. Damit stehen sie zwar nach Dionysos über den Menschen, sind aber wie sie Geschöpfe Gottes. Während die Menschen das pilgernde Volk sind, sind die Engel also das stationäre Gegenüber im Himmel – die aber immer wieder auf die Erde kommen und für einzelne Menschen sichtbar werden, um ihnen Botschaften zu überbringen.

Neun Chöre der Engel

Besonders bekannt geworden ist Dionysos mit der von ihm aufgestellten hierarchischen Ordnung der Engel. Demnach gibt es neun Chöre der Engel (nach der Potenz der Dreifaltigkeit), die in drei Dreiergruppen unterteilt sind und sich durch ihre Nähe zu Gott unterscheiden.

Erste Ebene und damit Gott am nächsten:
Seraphim, Cherubim, Throne

Zweite Ebene:
Herrschaften, Mächte, Gewalten

Dritte Ebene:
Fürsten, Erzengel, Engel

Wer im Internet sucht, wird Auflistungen finden, die jedem der Chöre besondere Funktionen und Eigenschaften zuordnen. In den vergangenen Jahrhunderten hat sich eine Mythologie entwickelt, die immer neue Blüten getrieben hat. Der Theologe Uwe Wolff, der sich viel mit der Lehre der Engel, der sogenannten Angelologie auseinandersetzt, hält das für wenig hilfreich. "Diese Engelchöre immer weiter auszuformulieren, hilft uns nicht weiter", sagt er und befürchtet eine Ausformulierung dieses Systems um seiner selbst Willen. "Das wird spekulativ und mystizistisch, wo es doch eigentlich um etwas Mystisches geht."

Bild: ©KNA-Bild

Schutzengel sind bis heute ein beliebtes Motiv.

Womit sich die Frage stellt, welchen Platz Engel eigentlich außerhalb von Kitsch und Esoterik heute noch im Glauben spielen können. Gerade die Mystik ist es, die Wolff in den Blick nimmt, also den inneren Blick auf die Welt abseits rationaler Überlegungen. Wolff verweist auf ein Bild von Hildegard von Bingen, die die Engelchöre in einem Kreis malt – mit einer weißen Mitte, die für den unsichtbaren Gott steht. "Ein Geheimnis kann man nicht erklären, man kann es nur singend und anbetend umkreisen." Die Engel seien ihrem Ursprung, also Gott, sehr nah, sie machten Gotteserfahrungen und sind so ein Spiegelbild des Menschen – und damit auch ein Ansporn, selbst die eigene Mitte zu suchen und damit auf die Welt und Gott zu schauen.

Wofür der Blick auf die Engelchöre helfen kann, ist eine Perspektive auf ein Leben mit Gott, sagt Wolff: "Zu einem Chor gehören viele Stimmen. Die Chöre der Engel stehen für die Vielfalt der Stimmen und des Singens uns Sagens von göttlichen Erfahrungen." Die Gott ganz nahe sind, haben mit der Welt nichts zu tun, sondern sind ganz vom göttlichen Licht umfangen. Die Engel der untersten Chöre sind dagegen die Pendler zwischen Himmel und Erde. Die Engel des zweiten Chores stehen für eine mittlere Ebene, die auf Erden politischen Systemen entsprechen könnte. Auch hier gibt es zu irdischen Verhältnissen ein himmlisches Gegenstück. Wichtig für Wolff ist die Vielfalt: Ein Gott ganz naher Engel ist nicht wichtiger als alle anderen, er erfüllt lediglich eine besondere Funktion.

Idealbild als Spiegel

Singend, lobpreisend und die Nähe Gottes erfahrend sind Engel ein Idealbild, ein Bezugspunkt für Menschen, die nach einer Gotteserfahrung suchen. Wer wie die Engel lobpreist und singt, also ein Stück weit aus dem eigenen Alltag heraustritt und sich Gottes Liebe in Erinnerung ruft, kann eine solche Erfahrung machen, sagt Wolff. Ebenso stehen Engel für die Verbindung vom Himmel zur Erde, etwa in Form der Schutzengel, die ihre Hand über die Menschen halten. Auch Gebete an sie können ein Zugang sein, um durch Engel die Nähe Gottes zu erfahren. "Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen. Sie tragen dich auf Händen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt." (Ps 91,11) Solche Sätze haben schon Menschen geholfen und in schweren Lebenssituationen Geborgenheit gegeben.

Engel sind aber nicht für jeden etwas, sie sind ein Zugang unter ganz vielen. Ebenso möglich ist etwa der Blick in die Natur oder auf andere Menschen. Ob man das, was man dort findet, als Begegnung mit einem Engel empfindet? Unerheblich, meint Wolff. "Wichtig ist eine Unmittelbarkeit der religiösen Erfahrung." Abseits von viel Überformung können Engel also noch heute eine Bedeutung für Religiosität und Spiritualität haben – dafür ist es aber nötig, sie von einigem Wust der vergangenen Jahrhunderte zu befreien.

Von Christoph Paul Hartmann