Spannendes Inferno
Dan Brown fackelt nicht lange. Eines kann man seinem neuem Roman "Inferno", der seit heute morgen in den Regalen steht, gewiss nicht vorwerfen: mangelndes Tempo.
Es folgt das, was man beim Film einen "harten Schnitt" nennen würde: Neues Kapitel, neuer Raum, neue Personen, neue Rätsel: Robert Langdon, der Kunsthistoriker und Ikonograph, der bereits in Browns früheren Romanen "Sakrileg", "Das Verlorene Symbol" und "Illuminati" zum Held aufgestiegen ist, wacht in einem Krankenhaus auf. Wie kommt er dorthin? Warum spricht seine Ärztin italienisch? Und woher kommen diese Kopfschmerzen und all das Blut? Doch bevor diese Fragen geklärt werden können, muss Langdon bereits vor einem weiblichen Profikiller fliehen.
Noch ein Schnitt: Was ist da nur Schiefgelaufen? Der Chef einer mysteriösen Organisation, die sich nur "Das Konsortium" nennt, sitzt unter Deck seines High-Tech-Bootes vor der Adria-Küste und greift zu einer Flasche Whisky. Ein blutiges Desaster, ein außer Kontrolle geratener Plan, den es irgendwie wieder einzufangen gilt.
Kapitel wie Filmsequenzen
Brown schreibt Kapitel wie Filmsequenzen. Er nutzt jedes Wort, um die Handlung voranzutreiben - mit Nebensächlichkeiten hält sich der Bestsellerautor gar nicht erst auf. Seine Sprache ist schnell, direkt, schörkellos - aber auch wenig kunstvoll. Seine Sequenzen sind die eines Actionfilms: Schießereien, wilde Verfolgungsjagden und sein Held ist permanent in Bewegung.
"Inferno" erzählt von einem zynischen Plan, die Weltbevölkerung im Zaum zu halten. Mehr als vier Milliarden Menschen, das hat der Council on Foreign Affairs ausgerechnet, könne der Planet nicht aushalten. Die Folge wären Szenen wie in Dantes Version von der Hölle: Geschundene Seelen, kaum noch als Menschen auszumachen, fallen übereinander her und verzehren sich gegenseitig - den sieben Todsünden wären Tür und Tor geöffnet. Da dieser Punkt 2013 bereits überschritten ist, gilt es, "steuernd" in den Verlauf der Geschichte einzugreifen.
Wer eines der Vorgängerwerke gelesen hat, erkennt die Zutaten für den neuen Thriller sofort: Da ist eine geheimnisumwitterte Organisation, die bereits seit einigen Jahrzehnten elementarer Bestandteil einiger Verschwörungstheorien ist - in diesem Fall eine Vereinigung einflussreicher Politikberater. Hinzu kommt ein Werk, dass die Kunstgeschichte geprägt hat, wie kaum ein anderes; ein Werk, mit dem jeder etwas verbindet, das aber die Wenigsten wirklich gelesen haben - in diesem Fall die "Göttliche Komödie" von Dante Alighieri.
Kirche spielt nur eine Nebenrolle
Der erste Teil aus Dantes Komödie heißt ebenfalls "Inferno". Es gilt als zentrales Werk der Literaturgeschichte, das das Bild von der Hölle über Jahrhunderte geprägt hat - und die Mitgliederzahl der katholischen Kirche locker verdreifacht haben dürfte, wie im Buch mehrfach gescherzt wird. Und auf dieses Werk nimmt Brown immer wieder Bezug.
Die Kirche spielt in Browns "Inferno" allenfalls eine Nebenrolle. So dürfte dieses Werk von Boykottaufrufen seitens der Kirche verschont bleiben. Zentrale Glaubensgrundsätze werden jedenfalls nicht umgedeutet und in Zweifel gezogen. Freunde gepflegter Verschwörungstheorien kommen dennoch auf ihre Kosten: Dantes Werk ist voll von Anspielungen und Chiffren. Die vielen Künstler, die ihre Gemälde, Skulpturen und Fresken auf der "Commedia" aufgebaut haben - angefangen von Sandro Botticelli, über Gustave Doré, William-Adolphe Bouguereau bis zu Auguste Rodin - vervielfachen dieses Potenzial. Robert Langdon kann sich also nach Herzenslust austoben.
Die Fakten, die Brown diesbezüglich in seinem Buch aufzählt, halten zumindest einer oberflächlichen Prüfung stand. Die Schlüsse, die er daraus zieht, sind erwartungsgemäß sehr fantasievoll. Dennoch ist es nützlich, bei der Lektüre den Computer oder ein Lexikon neben sich stehen zu haben. Denn über seinen Protagonisten nimmt Brown den Leser mit auf einen Paforce-Ritt durch die Kunstgeschichte, auf dem der geneigte Leser tatsächlich noch etwas lernen kann. Da ist es gut, wenn man nochmal einen schnellen Blick auf die zahlreich aufgezählten Kunstwerke werfen kann.
Ein gut erzählter Touristenführer
Wie immer muss Langdon sich durch ein diffzieles Labyrinth aus Räteln, Hinweisen und Fallstricken kombinieren. Dabei arbeitet er sich Szene für Szene an den zentralen Sehenswürdigkeiten der Renaissance-Hauptstadt Florenz ab. Geschickt setzt Brown das Puzzle Stück für Stück zusammen und hält die Spannung bis zum Ende aufrecht - an dem die angesprochenen Handlungsstränge zum großen Finale kulminieren.
Brown gelingt es mit "Inferno" einmal mehr, die Symbolik der Kunst für sich zu vereinnahmen und vergnüglich umzudeuten. Dabei greift er auf das beliebte Muster aus Verschwörungstheorien, dem Halbwissen der Leser und der Lust am Mystischen zurück. Dieses Muster ist genauso alt wie bewährt: Freunde des Popcornkinos erkennen darin eine Mischung aus Indiana Jones, "Das Vermächtnis der Tempelritter" und "Mission Impossible II" mit einem Schuss James Bond - nicht neu, aber immer wieder spannend.
Einmal aufgeschlagen, will man "Inferno" gar nicht mehr weglegen - genau das Richtige für den Strand oder eine lange Zugfahrt. Einmal an des Rätsels Lösung angekommen, kann man das Buch jedoch getrost wieder beiseite legen und sich ohne Ballast auf den nächsten Italien-Urlaub freuen - dann gibt es einen weiteren Grund, sich die Uffizien einmal ganz genau anzusehen.