Stimmen aus Kirche und Politik sowie Betroffenenvertreter reagieren auf Gutachten

"Meilenstein", "wegweisend": Lob für Münsteraner Missbrauchsstudie

Veröffentlicht am 13.06.2022 um 18:34 Uhr – Lesedauer: 

Münster ‐ Nach der Veröffentlichung der Studie zum Umgang mit sexuellem Missbrauch im Bistum Münster fallen die Reaktionen positiv aus: Die Rede ist etwa von einem "Meilenstein auf dem Weg der Aufarbeitung". Doch Betroffenenvertreter sowie Stimmen aus Kirche und Politik betonen, dass es noch viel zu tun gebe.

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Vertreter aus Kirche und Politik sowie von Betroffenen haben zum größten Teil positiv auf die Missbrauchsstudie für das Bistum Münster reagiert. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) würdigte das Gutachten als "Meilenstein auf dem Weg der Aufarbeitung". Der historische und sozial-anthropologische Ansatz führe "zu neuen, zukunftsweisenden Erkenntnissen", erklärte Generalsekretär Marc Frings am Montag in Berlin. Die bislang vorliegenden juristischen Gutachten aus anderen Bistümern würden durch die neue Studie entscheidend ergänzt. 

Das Forschungsteam um die Historiker Thomas Großbölting und Klaus Große Kracht fragt laut Frings "nicht nur nach Tätern und Betroffenen, nach Straftaten und deren Häufigkeit, sondern untersucht auch den Katholizismus in seiner Binnenstruktur". In den Blick kämen die Machtstellung des Priesters, die Rollenkonflikte der kirchlichen Vorgesetzten sowie die über Jahrzehnte dominante Konzentration auf das Image der Kirche.

"Bereitschaft zu einer kritischen Innen-Revision"

ZdK-Vizepräsident Wolfgang Klose erklärte: "Die Aufarbeitung im eigentlichen Sinne kann erst beginnen, wenn die Bereitschaft zu einer kritischen Innen-Revision da ist." Der Reformdialog Synodaler Weg der katholischen Kirche in Deutschland trage dazu Entscheidendes bei, so Frings.

Auch der Katholische Deutsche Frauenbund (KDFB) lobt die Münsteraner Studie als "wegweisend". Als historische Untersuchung könne die Studie mehr als andere Gutachten das "erschütternde Ausmaß und die Folgen des Missbrauchs für die Betroffenen aufzeigen und deren Engagement in der Aufarbeitung, Aufklärung und Vernetzung darstellen", sagte KDFB-Präsidentin Maria Flachsbarth. Die Studie stelle gegen verbreitete Narrative eindeutig fest, dass weder die sogenannte Sexuelle Revolution noch die Pädophilenbewegung Missbrauch im Raum der Kirche begünstigt haben. Vielmehr habe die unangefochtene, sakral aufgeladene Autorität von Priestern den Widerstand von Betroffenen und die Glaubwürdigkeit von Zeugen, insbesondere von weiblichen, geschwächt.

Thomas Grossboelting im Portrait
Bild: ©picture alliance/dpa/Jan-Philipp Strobel (Archivbild)

Der Historiker Thomas Großbölting arbeitete federführend an der Studie zum Umgang mit sexuellem Missbrauch im Biatum Münster.

"Wir müssen uns fragen, wie wir verstärkt dazu beitragen können, dass diese Taten in Kirche, Institutionen und Familien unmöglich werden", leitete Flachsbarth als Aufgabe für den Frauenverband ab. Man sei überzeugt, dass ohne die Stimmen von Betroffenen weder Aufarbeitung noch Veränderung in der Kirche gelingen könne.

Auch die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, begrüßte die Studie. Positiv sei vor allem die Einbindung von Betroffenen in die Untersuchung, sagte Claus am Montag der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Berlin. Die aufgedeckten Fehler von Bischöfen im Umgang mit Missbrauchsfällen müssten nun auch Konsequenzen haben.

Staat dürfe die Kirche nicht alleine lassen

Claus unterstützte die Forderung der Autoren nach einer starken staatlichen Beteiligung an der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche. Der Staat dürfe die Kirche hier nicht alleine lassen. Die Bundesregierung habe sich vorgenommen, Aufarbeitung sexualisierter Gewalt zu stärken. Eine Möglichkeit besteht laut Claus darin, die Aufarbeitung bei ihrem Amt gesetzlich zu verankern. Staatliche Verantwortungsübernahme brauche eine strukturelle Verbindlichkeit. Ziel müsse es auch sein, Betroffenen ein Recht auf Aufarbeitung einzuräumen.

Die Beauftragte lobte, dass die Untersuchung für Münster nicht von Juristen durchgeführt wurde, sondern von vier Neuzeithistorikern und einer Anthropologin. Dieser Perspektivwechsel ermögliche es, den Fokus auf spezifische kirchensystemische Faktoren zu richten, welche die Taten begünstigt und ihre Aufdeckung verhindert hätten.

Bild: ©picture alliance/dpa/Hauke-Christian Dittrich

Die aufgedeckten Fehler von Bischöfen im Umgang mit Missbrauchsfällen müssten nun auch Konsequenzen haben, betonte Kerstin Claus, Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung.

Nach den Worten von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) zeigt die Studie, dass es bei Aufklärung und Aufarbeitung noch großen Handlungsbedarf gebe. Die Aufarbeitung bereits verjährter Taten bleibe nicht allein den Kirchen überlassen. "Die Bundesregierung ist bereits wiederholt auf die katholische Kirche zugegangen und hat ihre Unterstützung angeboten."

Der Sprecher der Betroffenenorganisation "Eckiger Tisch", Matthias Katsch, forderte, die Aufarbeitung der sexuellen Gewalt der Kirche aus der Hand zu nehmen. Es könne nicht sein, dass die "Täterorganisation" freiwillig Gutachten in Auftrag gebe.

Grundlage für Aufklärung

Eine Betroffene, die Sozialpädagogin Sara Wiese aus Recklinghausen, sagte dem Portal kirche-und-leben.de, die Studie bilde eine Grundlage dafür, "dass Aufklärung bestenfalls jetzt erst beginnen kann".

Die am Montag vorgestellte Studie weist allen Münsteraner Bischöfen seit 1945 Fehler im Umgang mit Missbrauchsfällen nach. Beschuldigte und teils verurteilte Geistliche seien immer wieder versetzt worden und damit weitere Taten ermöglicht worden. Dem aktuellen Bischof Felix Genn (72) bescheinigen die Autoren, in seinen ersten Jahren in Münster reuigen Tätern kirchenrechtlich nicht immer mit der gebotenen Strenge begegnet zu sein und erst später den Umgang mit Missbrauchsfällen verändert zu haben. Die Untersuchung zählt nach Auswertungen von Akten und Betroffenen-Interviews 196 Beschuldigte. Die Zahl der Betroffenen liegt bei 610, davon drei Viertel männlich und ein Viertel weiblich. Die Dunkelziffer sei aber acht- bis zehnmal so hoch, so die Studienautoren. (mal/KNA)