"#OutInChurch gab uns Rückenwind für die Reform der Grundordnung"
Heinz-Josef Kessmann blickt auf fast ein Vierteljahrhundert Caritas zurück – nun hat sich der Münsteraner Diözesancaritasdirektor in den Ruhestand verabschiedet. Seit 1998 hat sich viel verändert: Mehr Digitalisierung, aber auch eine gespaltene Gesellschaft – und immer mehr Bedarf an guter Pflege. Als Vorsitzender der Arbeitsrechtlichen Kommission prägte Kessmann das katholische Arbeitsrecht mit – im Interview verrät er Details aus der Arbeit der Kommission, die die Reform der Grundordnung des kirchlichen Dienstes vorbereitet hat.
Frage: Herr Kessmann, Sie waren fast ein Vierteljahrhundert lang Caritasdirektor – was sind die deutlichsten Unterschiede zwischen der Caritas 1998 und 2022?
Kessmann: Inhaltlich beschäftigt uns die Frage der sozialen Spaltung immer mehr, im Augenblick ganz konkret: Wie gelingt es uns nach Corona und angesichts der Auswirkungen des Angriffskriegs von Russland auf die Ukraine, die wir bei uns spüren, den sozialen Zusammenhalt zu sichern. Nicht alle können die Inflation wegstecken und das als persönliches Opfer für die Freiheit der Ukraine verbuchen. Hier braucht es Antworten für die, die sich das nicht leisten können. Wie nehmen wir die Menschen mit, denen es am schlechtesten geht, und die die geringsten Chancen haben?
Frage: Und wie gelingt das? Das klingt auch nach einer Aufgabe für politische Bildung, nicht nur für die klassischen Aufgaben eines sozialen Trägers.
Kessmann: Ich finde, das gehört zu den Aufgaben der Caritas dazu, auch wenn das nicht direkt auf unserer obersten Zielebene – Not sehen und handeln – steht. Deshalb sind wir seit sechs Jahren dabei, in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung in der Caritas "Demokratieförderer" auszubilden.
Zur Person
Der Diplompsychologe und -volkswirt Heinz-Josef Kessmann war seit 1998 Diözesancaritasdirektor in Münster. Zudem war er Vizepräsident des Deutschen Caritasverbandes und der Arbeitsrechtlichen Kommission des Deutschen Caritasverbandes. Der Diözesancaritasverband Münster vertritt über 50 örtliche Verbände und rund 400 katholische Einrichtungen mit 80.000 Hauptamtlichen und 30.000 Ehrenamtlichen.
Frage: Und wie hat sich die Caritas strukturell verändert?
Heinz-Josef Kessmann: Ein Unterschied ist in den letzten Jahren sehr präsent geworden: Wir sind im Sozialbereich sehr viel digitaler geworden, in allen Vollzügen. Der zweite Unterschied ist die demographische Entwicklung. Wir haben immer mehr zu pflegende Personen und immer weniger Fachkräfte und Interessenten an den Berufen in der sozialen Arbeit. Wir bilden so viele Pflegekräfte aus wie noch nie, aber mit Blick auf die Aufgaben immer noch zu wenig. Die Caritas ist in den letzten Jahren auch weiter gewachsen. Das ist eine Entwicklung, die ich vor 24 Jahren noch nicht erwartet habe: Als ich in Münster als Caritasdirektor angefangen habe, waren es 80 Altenpflegeheime im Bistum, wir sind mittlerweile bei 200. Ich hatte schon bei 150 gedacht, jetzt müsste es doch mal gut sein, aber es geht immer weiter.
Frage: Liegt das Wachstum am gestiegenen Bedarf oder an einer Konsolidierung auf dem Markt? Haben Sie Einrichtungen übernommen?
Kessmann: Kaum. Als gemeinnütziger Träger ist man selten in der Lage, gewerbliche Einrichtungen zu übernehmen, die funktionieren nach einer anderen Logik. Wir haben gar nicht die Mittel, um private Träger aus Einrichtungen herauskaufen können. Es sind tatsächlich Wachstum und wachsender Bedarf.
Frage: Mehr Einrichtungen bedeutet auch mehr Personalbedarf. Wo Caritas draufsteht, ist immer auch die Kirche drin. Wie wirkt sich die Vertrauenskrise der Kirche auf das Image des kirchlichen Arbeitgebers Caritas aus?
Kessmann: Da gibt es eine doppelte Auswirkung, sowohl positiv wie negativ. Es hat sich am Arbeitsmarkt herumgesprochen, dass die Caritas einen sehr guten Tarif zahlt, und dass es eine hohe Tarifbindung gibt, dass dieser Tarif also tatsächlich umgesetzt wird. Das sehen mittlerweile auch die Träger so, denen unser Tarif früher zu hoch war und die immer kämpfen mussten, diesen Tarif auch gegenüber den Kostenträgern durchzusetzen. Dort ist jetzt angekommen, dass unser verlässlicher Tarif auf diesem von Fachkräftemangel geprägten Arbeitsmarkt ein großer Vorteil ist. Die negativen Auswirkungen durch die Grundordnung des kirchlichen Dienstes haben sich spätestens mit der letzten Reform 2015 deutlich entspannt. Als ich anfing, war das tatsächlich eine große Problematik. Mit der Reform, die dazu führte, dass Scheidung und Wiederheirat nicht mehr automatisch zu Kündigungen führen, und mit dem liberaleren Umgang mit Verpartnerung und gleichgeschlechtlicher Ehe zumindest für nichtkatholische Beschäftigte, war uns sehr geholfen. Ich gebe aber ehrlich zu, dass wir, und auch ich persönlich, übersehen haben, dass die Formulierungen der Grundordnung weiterhin Menschen verletzt haben.
Frage: Die Formulierungen haben nicht nur verletzt – bei katholischen Beschäftigten sind sie auch verbunden mit arbeitsrechtlichen Sanktionen.
Kessmann: Meines Wissens ist es fast nie zu Kündigungen aufgrund von gleichgeschlechtlichen Beziehungen gekommen. Bei uns im Diözesancaritasverband hat auch nie eine Einrichtung um Beratung in solchen Fällen gebeten. Ich will aber nicht behaupten, dass wir immer die vorurteilsfreieste Gesellschaft innerhalb der katholischen Kirche waren. Ich fürchte, dass es bei vielen Trägern mehr Zurückhaltung gab als das gerechtfertigt war. Es hat mich als jemanden, der das Arbeitsrecht ja auch selbst jahrelang mitgeprägt hat, sehr enttäuscht, dass es trotz der Entschärfungen 2015 immer wieder Unsicherheiten und Nachfragen gab. Die Chancen der Reform wurden nicht immer genutzt. Nicht zuletzt durch #OutInChurch wurde mir noch einmal deutlich, dass wir auch am Text der Grundordnung etwas ändern müssen, auch wenn die entsprechenden Passagen in der Praxis kaum angewandt wurden. Der Entwurf für die neue Grundordnung ist jetzt viel offener und einladender. Der entscheidende Punkt ist: Jetzt steht dort, dass wir Vielfalt im kirchlichen Dienst wollen.
Frage: Der Entwurf geht sehr weit. Ist das eine Reaktion auf #OutInChurch, oder waren die Planungen auch zuvor schon so weitreichend?
Kessmann: Mit der letzten Reform wurde eine Evaluation der Grundordnung innerhalb von fünf Jahren beschlossen. Ich war von Anfang an Mitglied in der Begleitgruppe, die für diese Evaluierung zuständig war, und da haben wir, auch angeregt durch die Beschlusslage in der Caritas, von Anfang an auf einen Ansatz gesetzt, der stärker institutionenbezogen ist und weniger auf die persönlichen Verhältnisse abhebt. Die Idee, dass der Sendungsauftrag einer kirchlichen Einrichtung etwas mit der sexuellen Orientierung der Mitarbeiter zu tun hat, hat seit 2015 niemand mehr gehabt. Von Anfang an ging es darum, das Privatleben und die Intimsphäre zu schützen und Vielfalt zu betonen. Ich gebe gerne zu, dass der Beschluss des Synodalen Wegs zum Arbeitsrecht und #OutInChurch uns den Rückenwind gegeben haben, dass das jetzt durchsetzbar erscheint.
Frage: Sehen Sie die nötige Mehrheit unter den Bischöfen?
Kessmann: Warten wir es ab. Mich stimmt es aber optimistisch, dass der Entwurf schon durch verschiedene Gremien der Bischofskonferenz ging und jetzt öffentlich zur Diskussion freigegeben wurde. Auch das ist ein Novum: Dass es vor der Beschlussfassung einen offenen Rückmeldungsprozess gibt, hat es noch nie gegeben.
Frage: Keine Änderungen sind im Bereich des kollektiven Arbeitsrechts geplant. Die Gewerkschaften und die KAB kritisieren, dass weiterhin das Betriebsverfassungsgesetz nicht angewendet wird, dass Streik sowie wirtschaftliche und unternehmerische Mitbestimmung weiterhin ausgeschlossen sind. Warum verändert sich da nichts?
Kessmann: In den "Bischöflichen Erläuterungen" gibt es eine Formulierung zur Mitbestimmung in den Organen einer Gesellschaft. Das ist keine Vorgabe, das ist ein Prüfauftrag. In einer hierarchisch verfassten Struktur ist eine solche Beteiligung ausgesprochen schwierig. Vielleicht könnte man noch über Mitwirkung in Gremien der verbandlichen Caritas diskutieren, auch wenn das die Träger nicht unbedingt sofort mit Begeisterung begrüßen würden. Schon jetzt ist die Stärkung der unternehmerischen Mitbestimmung ein Stück weit erfolgt durch die Information über wirtschaftliche Angelegenheiten, das gilt es in der nächsten Zeit weiterzuentwickeln anhand dieses Prüfauftrags, den wir formuliert haben.
Frage: Wie haben Sie es wahrgenommen, dass in ihren Aufsichtsgremien im Diözesancaritasverband und bei Trägern die Dienstnehmerseite nicht vertreten ist?
Kessmann: Ich habe das versucht durch Information der Mitarbeitervertretung und aller Mitarbeitenden über wirtschaftliche Entwicklungen auszugleichen. Als ich hier anfing, war die wirtschaftliche Situation des Diözesancaritasverbands nicht besonders gut, es gab darüber hinaus deutliche Kürzungen seitens des Landes, wir haben versucht, den Mitarbeitenden das Stück für Stück zu erläutern und deutlich zu machen, welche Überlegungen wir in den Gremien präsentieren.
Frage: Information ist aber noch keine Mitbestimmung. Warum sollte ein Caritaskrankenhaus-Aufsichtsrat anders strukturiert sein als der Aufsichtsrat einer Krankenhaus-AG?
Kessmann: Die Voraussetzungen für Beteiligung bei gemeinnützigen Trägern sehen anders aus, hier geht es um die Verantwortung für öffentliche Mittel. Ich will damit nicht sagen, dass ich wirtschaftliche Mitbestimmung für ausgeschlossen halte, aber das ist im Augenblick tatsächlich rechtlich nur schwer umsetzbar, erst recht wenn man noch weiter geht und wie katholische Sozial- und Jugendverbände eine laboristische Unternehmensverfassung fordert, also Kapital in Arbeitnehmerhand zu geben. Das alles funktioniert momentan gemeinnützigkeitsrechtlich nicht.
Frage: Aber die Kirche könnte sich als großer Akteur, gerade auch im gemeinnützigen Bereich, politisch dafür einsetzen. Das tut sie aber nicht – also will sie es anscheinend nicht.
Kessmann: Immerhin gibt es nun einen Prüfauftrag. Das ist nicht nichts. Wie bei allen anderen Dingen bewegt sich die Kirche nicht mit Hauruck, sondern langsam und kontinuierlich. In den nächsten Jahren wird geprüft, wie sich Unternehmensverfassungen in der Kirche verändern lassen, und ob es überhaupt gewollt ist, dass sie sich verändern.
Frage: Sie blicken auf ein gutes Vierteljahrhundert Erfahrung zurück – wo soll die Caritas in einem Vierteljahrhundert stehen?
Kessmann: Ganz egoistisch hoffe ich: Sie soll weiterhin so aufgestellt sein, dass ich im Alter in unseren Einrichtungen gut versorgt werden kann. Ich hoffe, dass sich die Caritas auch in 25 Jahren auf der Höhe der Zeit um die Menschen in Notlagen kümmern wird, mit viel Expertise und ausreichender personeller und finanzieller Ressourcen – und weiterhin aus dem Geist heraus getragen, dass wir alles in der festen Überzeugung tun, dass der Mensch seine Würde von Gott hat und unser Tun ein wichtiger Dienst der Kirche für unsere Gesellschaft ist. Wenn das als Grundstruktur erhalten bliebe, wäre die Caritas auch in 25 Jahren noch hochaktuell und eine wichtige gesellschaftliche Kraft.